Meister und Margarita
tat alles, um nur etwas in Erfahrung zu bringen, und natürlich brachte sie nichts in Erfahrung. So kehrte sie in die Villa zurück und lebte dort genau wie zuvor.
Kaum aber schwand von den Straßen und Bürgersteigen der schmutzige Schnee, kaum zog durch die Fenster das leicht angefaulte beunruhigende Frühlingswehen, da litt Margarita Nikolajewna noch stärker als im Winter. Und oft weinte sie insgeheim, und sie weinte lange und bitter. Denn sie wusste nicht, wen sie liebt: einen Lebenden oder einen Toten. Und je mehr die verzweifelten Tage verstrichen, umso mehr – vor allem in der Abenddämmerung – glaubte sie mit einem Toten verbunden zu sein.
Es galt, entweder ihn zu vergessen oder aber selbst zu sterben. So konnte es auf keinen Fall weitergehen! Ihn vergessen, um alles in der Welt! Doch was tun, wenn er unvergesslich ist?
– Ja, ja, ja, haargenau der gleiche Fehler! –, sagte Margarita, am Ofen sitzend und ins Feuer blickend. (Zum Gedächtnis jenes Feuers entzündet, welches brannte, als er am »Pontius Pilatus« schrieb.) – Warum bin ich in der Nacht nur von ihm gegangen? Warum? Es war doch glatter Wahnsinn! Ich kehrte am nächsten Tag zurück, wie versprochen, aber es war schon zu spät. Ja, ich kehrte zu spät zurück, wie der unglückselige Levi Matthäus!
Natürlich waren all diese Worte absurd. In der Tat: Was hätte sich denn geändert, wäre sie in der Nacht bei dem Meister geblieben? Hätte sie ihn wirklich gerettet? Unsinn! –, möchten wir am liebsten rufen, werden uns aber davor hüten – aus Rücksicht auf eine untröstliche Frau.
Es war der Tag, an dem – im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Schwarzen Magiers in Moskau – alle möglichen und unmöglichen Dinge passiert sind: Jener Freitag, da Berlioz’ Onkel zurück nach Kiew befördert wurde, der Buchhalter in Arrest geriet und noch viele andere höchst absonderliche und alberne Sachen sich ereignet haben. Margarita erwachte gegen Mittag in ihrem Schlafzimmer, dessen Erker zu einem Türmchen der Villa gehörte.
Margarita erwachte, doch an diesem Tag weinte sie nicht, weil sie deutlich ahnte: Heute wird endlich etwas geschehen. Als sie dieses Gefühl bemerkte, begann sie, es in sich zu pflegen und zu hegen, damit es sie nicht wieder verließ.
– Ich glaube daran! –, flüsterte sie feierlich. – Ich glaube daran! Etwas wird geschehen! Etwas muss geschehen! Denn womit soll ich diese lebenslange Qual verdient haben? Ich gestehe ja: Ich habe gelogen, ich habe ein Doppelleben geführt. Aber wäre solch eine grausame Strafe dem angemessen? Etwas wird geschehen, ganz unbedingt, weil kein Zustand von ewiger Dauer ist. Außerdem war mein Traum prophetisch, das könnte ich schwören.
So flüsterte Margarita Nikolajewna – mit einem Blick auf die hellroten Vorhänge, die mehr und mehr von der Sonne getränkt wurden –, zog sich an und kämmte vor dem dreifachen Spiegel ihr kurzes onduliertes Haar.
Margaritas Traum war auch wirklich kurios. Zum Beispiel hatte sie während ihrer winterlichen Qualen niemals vom Meister geträumt. Denn nachts war sie frei von ihm gewesen und nur tagsüber voll Sehnsucht nach ihm. Doch letzte Nacht zeigte er sich ihr.
Eine nie zuvor gesehene Gegend – trist und trostlos. Der fahle Himmel eines gerade beginnenden Frühlings. Dieser zerrupfte gräuliche Himmel zieht über lautlosen Krähen dahin. Irgendeine geknickte Brücke, darunter ein trübes lenzliches Flüsschen. Freudlose, halbnackte Bettler von Bäumen. Eine einsame Espe, dann – hinter den Ästen und Gemüsebeeten – eine Holzhütte: ob Kochbude, ob Schwitzstube, ob sonst was – ach, weiß der Geier. Rings herum alles leblos, bedrückend. Und die Espe dort an der Brücke lädt ein, sich an ihr schnellstens aufzuknüpfen. Kein wehendes Lüftchen, kein schwebendes Wölkchen, keine einzige Menschenseele. Die reinste Hölle für einen Lebenden.
Und da – man stelle sich das nur vor – geht die Tür dieser Holzhütte auf und an der Schwelle erscheint – er selbst. Ziemlich weit weg, aber deutlich zu sehen. In Lumpen, keine Ahnung, was er da anhat. Die Haare zerzaust, das Gesicht unrasiert. Die Augen krank und kummervoll. Er winkt mit der Hand, ruft sie herbei. Sich an der unechten Luft verschluckend – über Erdhügel – läuft Margarita zu ihm – und erwacht.
»Das kann eigentlich nur zwei Dinge bedeuten«, dachte Margarita Nikolajewna im Stillen: – »Wenn er tot ist und nach mir ruft, dann heißt es: Er kommt, um mich zu holen.
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