Meister und Margarita
Uferlichter.
Als nun Iwan, triefend und tänzelnd, die Stufen zurück zu der Stelle erklomm, wo er seine Kleidung unter dem wachsamen Auge des bärtigen Mannes gelassen, stellte sich plötzlich heraus, dass beides entführt worden war – das heißt: nicht allein die Kleidung, sondern vor allem der Bärtige selbst. Genau dort, wo vordem noch der Haufen Klamotten gelegen hatte, sind außer dem lumpigen Bauernkittel nur eine gestreifte Unterhose, die Kerze, das Heiligenbildchen und Streichhölzer geblieben. In machtloser Wut zeigte Iwan jemandem in der Ferne die Faust und bedeckte die eigene Blöße mit den traurigen Überresten.
Zwei Dinge machten ihm jetzt zu schaffen: erstens, der verschwundene Massolit – Ausweis, von dem er sich niemals trennte, zweitens, die Frage, wie weit er in solch einem Aufputz wohl durch Moskau käme, ohne aufgehalten zu werden – so in Unterhosen … Natürlich geht das keinen was an, doch könnte sich jemand daran stoßen, ihn unnötig aufhalten.
Iwan riss von den Hosen die Knöpfe ab, in Höhe der Knöchel, wo sie zur Befestigung dienen. Mit etwas Glück gehen sie als Knickerbocker durch. Er hob alles Weitere auf – Ikone, Kerze und Streichhölzer – und sagte sich selbst mit fester Stimme:
– Und jetzt zum Gribojedow! Er ist zweifellos dort.
In der Stadt hatte bereits das abendliche Treiben begonnen. Durch den Staub huschten kettenklirrende Laster. In ihren Laderäumen lagen auf Säcken, die Bäuche nach oben gestreckt, irgendwelche Kerle. Alle Fenster standen weit offen. Und in jedemFenster brannte ein Licht unter orangefarbenem Lampenschirm. Und jedes Fenster und jede Tür und jedes Tor – und jedes Dach und jede Mansarde – und jeder Keller und jeder Hof – krächzte heiser die Polonaise aus der Oper »Eugen Onegin«.
Iwan Nikolajewitschs Befürchtungen hatten sich voll und ganz bestätigt: Passanten schenkten ihm zu viel Aufmerksamkeit, drehten die Köpfe nach ihm um. Also: von größeren Straßen Abstand nehmen, sich durch Hintergässchen stehlen. Dort sind die Menschen nicht gar so lästig. Dort stehen die Chancen geringer, dass ein armer, barfüßiger Mann schikaniert und mit Fragen bedrängt wird. Zum Beispiel bezüglich der Unterhose, die sich aber auch so verbissen wehrte, eine Knickerbocker zu sein.
Gedacht, getan. Und auf, ins verborgene Labyrinth der Arbat-Gassen. Unter den Mauern hindurchgeschlichen. Mit angstvollen Blicken und sich pausenlos umsehend. Zum anderen Mal in den Einfahrten wartend. Beampelte Kreuzungen meidend. Sowie prunkvolle Botschaftsfassaden.
Und auf seinem gesamten beschwerlichen Weg wurde er – weiß der Himmel, wieso – unsäglich von jenem allwesenden Opernorchester gepeinigt, zu dessen Begleitung ein wuchtiger Bass seine heiß geliebte Tatjana besang.
Kapitel 5
Es war einmal im Gribojedow
Das alte cremefarbene Haus mit zwei Stockwerken lag am Boulevard-Ring inmitten eines verkümmerten Gartens, durch gezierte Gusseisengitter vom Bürgersteig abgetrennt. Die kleine Fläche davor war mit Asphalt überdeckt. Im Winter prangte auf ihr nur ein Schneehauf mit Schaufel. Im Sommer jedoch wandelte sie sich zum prachtvollsten Restaurant unter einem leinenen Zeltdach.
Das Haus hieß »das Haus Gribojedows« aufgrund der Bewandtnis, dass es angeblich, anno dazumal, einer Tante des Schriftstellers Alexander Gribojedow gehört hatte. Hatte es? Hatte es nicht? – wir wissen wenig Verlässliches. Nur manchmal fällt einem ein, dass die vermeintliche Hausbesitzerin-Tante historisch eigentlich gar nicht belegt ist … Das Haus aber nannte man trotzdem so. Mehr noch, ein Moskauer Schwadroneur gab zum Besten, dort – in der ersten Etage – im runden Säulensaal – habe der hochberühmte Dichter Auszüge aus »Verstand schafft Leiden« der nämlichen Tante deklamiert, während sie sich auf dem Sofa rekelte. Nun, vielleicht hat er auch. Weiß der Geier. Spielt keine Rolle!
Was aber eine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass es in unserer Zeit der besagten Massolit gehörte, an deren Spitze der unglückselige Michail Alexandrowitsch Berlioz gestanden hatte (natürlich vor seinem Auftritt am Patriarchenteich).
Als Liebhaber kurzer Worte sprachen die Mitglieder der Massolit jedoch niemals vom »Haus Gribojedows«, sondern nannten es kumpelhaft »Gribojedow«: »Hab mich gestern zweiStunden im Gribojedow rumgedrückt.« – »Und? Was gebracht?« – »Immerhin, einen Monat in Jalta.« – »Du kleiner Glückspilz!« Oder: »Geh mal zu Berlioz. Der
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