Meister und Margarita
auch morgen. So lange es nötig ist. Immer weiter marschieren. Die Hände am schweren, mit kupfernen Schildern beschlagenen Gürtel. Der Blick streng geheftet an die Hinrichtungspfähle oder an seine Soldatenreihen. Mit dem zottligen Stiefel von sich stoßend alles, was unter die Füße geriet – ganz gleich, ob Kiesel oder von der Zeit gebleichtes Menschengebein.
Der Mann in der Kapuze nahm jetzt Platz auf einem dreibeinigen Schemel unweit der Pfähle. Er saß dort in gutmütiger Ruhe und kritzelte nur ab und zu aus Langeweile etwas in den sandigen Grund.
Wenn es heißt, hinter der Absperrung der Legionäre sei kein Mensch gewesen, dann stimmt das nicht ganz. Dort war ein Mensch, doch für wenige sichtbar. Nicht an der Seite mit dem freien Aufstieg, von wo aus sich die Hinrichtung besonders bequem verfolgen ließ, sondern an der nördlichen. Dort, wo der Hügel nicht flach und zugänglich, sondern uneben und schroff war, übersät mit Brüchen und Felsenspalten. Dort, wo im Erdriss, an den gottverfluchten, nach Wasser lechzenden Grundgeklammert, ein krankes Feigenbäumchen ums Überleben kämpfte.
Unter dieses, obwohl es keinen Schatten bot, hatte sich jener einzige Zuschauer (und nicht Teilnehmer) der Exekution begeben und sich gleich zu Beginn – vor vier Stunden also – auf einen Stein gesetzt. In der Tat, um der Hinrichtung beizuwohnen, nicht gerade der beste Platz, womöglich sogar der denkbar schlechteste. Dennoch waren die Pfähle von hier aus zu sehen, genauso wie – hinter der Kette – die zwei leuchtenden Flecken auf der Brust des Centurio. Das aber genügt vollkommen und bietet Schutz vor lästigen Blicken.
Vorhin jedoch – vor vier Stunden also – hatte der Mann sich ganz anders verhalten – ja, geradezu auffällig! – und sich vielleicht deshalb zurückgezogen.
Denn kaum war die Prozession am Gipfel des Berges, hinter der Absperrung angelangt, als er sich zum ersten Mal zeigte: Ein zu spät Gekommener, schwer atmend, nicht gehend, vielmehr hastend, drängelnd. Sobald sich vor ihm – wie vor all den anderen – die Kette schloss, tat er naiv: Überhörte die Warnrufe und versuchte, zwischen den Soldaten hindurchzubrechen – zum Hinrichtungsplatz, wo die Missetäter gerade vom Karren gelassen wurden. Dafür erntete er einen starken Stoß in die Brust mit dem stumpfen Ende einer Lanze, prallte zurück und schrie auf – nicht vor Schmerz, sondern vor Verzweiflung. Den Legionär, der ihm den Stoß versetzt hatte, sah er mit trübem, für alles blind gewordenem Blick an – unempfindlich für den physischen Schmerz.
Hustend, keuchend, sich an die Brust fassend, lief er um den Hügel herum. Lieferte nicht die nördliche Seite eine Möglichkeit, durchzuschlüpfen? – Nein, zu spät. Und der Ring geschlossen. – Der Mann mit dem zermarterten Gesicht musste wohl oder übel aufgeben: Die Pfähle sind bereits abgeladen. Der Versuch, an sie heranzukommen, führt zwangsläufig zu einer Verhaftung. Was heute auf keinen Fall ratsam wäre.
Also hatte er sich zur Seite gewandt, zur Felsenspalte. Ein ruhiger, abgeschirmter Ort.
Und leidend saß er jetzt auf dem Stein, dieser Schwarzbärtige. Und die Augen eiterten ihm vor Sonne und schlaflosen Nächten. Er seufzte. Öffnete den einst blauen, nun aber schmutzig grauen Tallit. Entblößte die von der Lanze getroffene, vor Schmutz und Schweiß triefende Brust. Schaute in maßloser Pein zum Himmel, wo schon seit Langem – im Vorgeschmack einer köstlichen Mahlzeit – drei Geier große Kreise vollzogen. Und senkte sogleich den trostlosen Blick zur gelblichen Erde: Dort flitzten Eidechsen um einen halb zerfallenen Hundeschädel.
Die Qual des Mannes war so stark, dass er bisweilen mit sich selbst redete.
– Oh, was bin ich doch für ein Narr! –, murmelte er, wippte bestürzt auf dem Stein hin und her und zerkratzte sich die gebräunte Brust. – Ein Narr, ein törichtes Weib, eine Memme! Ich bin ein Aas und kein Mensch!
Er verstummte. Ließ den Kopf hängen. Trank aus hölzerner Flasche lauwarmes Wasser. Belebte sich wieder. Griff nach einem Messer, welches unter dem Tallit versteckt war. Dann nach einem Stück Pergament, das vor ihm auf dem Stein lag – zusammen mit einem kleinen Schreibstock und einem Tintenfässchen.
Auf dem Pergament war bereits einiges notiert.
»Die Zeit verstreicht. Ich, Levi Matthäus, bin oben auf dem Kahlen Berg. Wo aber ist der Tod?«
Und ferner:
»Die Sonne läuft ihrem Untergang zu. Wo ist der Tod?«
Nun
Weitere Kostenlose Bücher