Meister und Margarita
kritzelte Levi Matthäus entgeistert mit dem spitzen Stöckchen folgende Sätze:
»Gott! Weswegen zürnst du ihm so? Gib ihm den Tod.«
Er schrieb sie nieder, schluchzte dann tränenlos und kratzte sich wieder die Brust blutig.
Levi verzweifelte schier an diesem fürchterlichen Unglück –seinem und Jeschuas. Aber auch an dem schrecklichen Fehler: Vorgestern tagsüber sind sie beide in Bethanien bei Jerschalajim. Im Haus eines Gemüsegärtners, der Jeschuas Predigten so gern hört. Morgens helfen sie im Garten mit und wollen abends – in der Kühle – nach Jerschalajim heimkehren. Doch Jeschua beeilt sich auf einmal. Muss in der Stadt etwas Dringendes erledigen. Und geht gegen Mittag fort – allein. Der erste Fehler von Levi Matthäus! Ihn unbegleitet ziehen zu lassen! Warum denn nur, warum denn nur!
Abends schafft es Levi nicht nach Jerschalajim. Irgendein überraschendes böses Siechtum packt ihn. Mit Krämpfen, Feuer im Eingeweide, Zähneklappern, zehrendem Durst. Wie denn in solch einem Zustand gehen? Er wirft sich auf eine Pferdedecke im Schuppen des Gemüsegärtners und wälzt sich auf ihr bis Freitagmorgen. Da weicht die Krankheit genauso plötzlich, wie sie gekommen. Zwar ist er noch schwach, zwar zittern ihm noch die Beine, doch schon verabschiedet er sich, ein Unheil ahnend, vom Hausherrn und zieht gen Jerschalajim. Dort erfährt er: Die Ahnung täuschte ihn nicht: das Unheil. Levi hört mit der Menge den Statthalter das Urteil verkünden.
Dann – der Gefangenentransport auf den Berg. Levi humpelt neben der Sperrkette – mit den Gaffern. Jetzt – heimlich – ein Zeichen geben – für Jeschua: Ich, Levi, bin hier, bei dir. Nicht allein sollst du antreten deine Abschiedsreise. Und ich bete: Möge der Tod dich, Jeschua, bald schon holen. Aber Jeschua blickt in die Weite – wohin er gebracht wird. Schaut – gewiss – an Levi vorbei.
Nun hat der Zug eine halbe Meile zurückgelegt. Und Matthäus, den die Schar der Menschen immer wieder gegen die Absperrung drängt, weiß es auf einmal: Ja! Natürlich! Und flucht sich selber in jähem Zorn: Warum denn nicht gleich so! Marschieren die Soldaten etwa in fester geschlossener Reihe? Nein, in gewissen Abständen. Mit Geschicklichkeit und präzisem Kalkül vorgebeugt zwischen zwei Legionären hindurchschlüpfen. Zum Karren laufen. Aufspringen. Dann ist Jeschua seine Schmerzen los.
Ein Augenblick ist mehr als genug, Jeschua das Messer in den Rücken stoßen. Rufen: Jeschua! Ich rette dich! Und gehe zusammen mit dir fort! Ich, Matthäus, dein treuer und einziger Jünger!
Und beschert Gott noch einen weiteren freien Augenblick: Sich selbst erstechen, um so dem Tod am Pfahl zu entgehen. Letzteres interessiert Levi, den ehemaligen Steuereintreiber, indes am wenigsten. Die Todesart ist ihm gleich. Er will nur eines: Jeschua, der zeit seines Lebens keinem ein Leid getan, die Pein ersparen.
Ein sehr guter Plan. Abgesehen davon, dass Levi kein Messer dabeihat. Geschweige denn einen blanken Heller.
Voller Wut auf sich selbst schafft Levi es gerade noch aus der Menge heraus, eilt zurück nach Jerschalajim. Im hitzigen Hirn hetzt der Gedanke: Das Messer. Koste es, was es wolle. Schnell, sofort in der Stadt besorgen. Und flugs die Prozession einholen.
Er erreicht das Tor. Irrt durch drängelnde Karawanen, die sich langsam an der Stadt festsaugen. Sieht links die offene Tür eines Lädchens, wo Brot verkauft wird. Schwer atmend – vom Laufen auf dem glühenden Pfad – gewinnt er die Selbstbeherrschung wieder. Tritt ein. Sehr gelassen. Begrüßt die Bäckerin. Wählt vom Regal den obersten Laib, den er aus irgendeinem Grund bevorzugt. Und dann, als die Frau sich umdreht, nimmt er von der Theke schweigend und schnell das Kostbarste auf der ganzen Welt: ein perfekt geschliffenes langes Brotmesser. Und jagt davon.
Einige Minuten später ist er abermals an der Jaffa-Straße. Von der Prozession keine Spur mehr zu sehen. Er sputet sich. Zuweilen stürzt er in den Staub und liegt regungslos. Um Luft zu schöpfen. Und so liegt er da und erstaunt die Menschen, die mit dem Maultier oder zu Fuß nach Jerschalajim ziehen. Und so liegt er da und lauscht auf das Pochen seines Herzens – nicht allein in der Brust, doch auch im Kopf und in den Ohren.Kommt zu Atem. Springt wieder auf. Setzt den Lauf fort, jedes Mal langsamer. Endlich erschaut er die sich weit hinstreckende Schar in der Ferne den Staub aufwirbeln. Sie ist unten am Hügel angelangt.
– Oh Gott … –,
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