Meister und Margarita
stöhnt Levi. Kommt er zu spät? – Er kommt zu spät.
Als die vierte Stunde der Hinrichtung verstrichen war, erreichten die Qualen Levis ihren Höhepunkt: Er wurde wütend. Erhob sich vom Stein. Schleuderte das Messer zu Boden. (Warum hat er es denn bloß gestohlen?) Zerdrückte mit dem Fuß die Flasche, sodass ihm kein Wasser mehr blieb. Warf die Kefije von seinem Haupt. Raufte sich das schüttere Haar und fing an, sich selbst zu verfluchen.
Er verfluchte sich selbst. Er stieß sinnlose Wörter aus. Er knurrte. Er spie. Er verhöhnte Vater und Mutter. Hatten sie doch einen Narren gezeugt.
Und er sah: Weder Hadern noch Fluchen hilft. In der glühenden Hitze ist alles wie vorher. Also kniff er die Augen zusammen, also ballte er seine trockenen Fäuste. Und hob sie gen Himmel – wider die Sonne, welche da immer tiefer sank, ihre Schatten langzog und weiter wich, um in das Mittelmeer abzugleiten – und verlangte von Gott – sofort – ein Wunder. Verlangte von Gott, dass er Jeschua ohne Aufschub den Tod sandte.
Die Augen öffnend, stellte er fest: Auf dem Hügel hat sich gar nichts verändert. Nur die flammenden Flecken auf der Brust des Centurio sind erloschen. Die Sonne trifft mit ihrem Licht die Rücken der Hingerichteten, ihre Gesichter aber sind nach Jerschalajim gewandt. Und Levi rief aus:
– Ich fluche dir, Gott!
Er keuchte. Bei Gott ist keine Gerechtigkeit. Warum also ihm weiter noch trauen?
– Du bist taub! –, röchelte Levi. – Und wärst du nicht taub, du hättest mich erhört und ihn auf der Stelle getötet.
Levi machte die Augen zu. Gleich fährt ein Feuer herab undstreckt ihn nieder. Doch nichts geschah. Mit geschlossenen Lidern warf Levi höhnische, lästernde Worte in die Höhe – dem Himmel entgegen. Von seiner Enttäuschung. Von den Vorzügen anderer Götter und Religionen. Oh ja, ein anderer Gott hätte niemals gestattet, dass ein Mensch wie Jeschua auf einem Pfahl von der Sonne versengt wird.
– Ich war verblendet! –, brüllte er, nun vollends heiser geworden. – Du bist ein böser Gott! Oder hat dir etwa das Räucherwerk aus deinem Tempel den Blick getrübt? Oder vermag dein Ohr nichts anderes zu hören als die Drommeten der Priesterschaft? Wahrlich, du bist kein allmächtiger Gott. Du bist tiefschwarz. Und ich fluche dir. Du Gott der Schurken, ihr Schutzpatron und ihr innerster Wesenskern!
Da wehte dem ehemaligen Steuereintreiber etwas ins Gesicht. Da raschelte etwas unter seinen Sohlen. Dann wehte es noch einmal. Er öffnete die Augen. Ob wegen der Flüche oder aus sonst einem Grund: Aber in der Welt hat sich alles gewandelt. Die Sonne war fort, noch bevor sie das Meer, in dem sie allabendlich sank, erreichen konnte. Verschluckt von einer Sturmwolke, die drohend und stur von Westen her über den Himmel kroch. Schon kochte an ihren Rändern ein weißer Schaum auf. Schon brannte ihr schwarzer und rauchiger Bauch in gelben Lichtern. Die Wolke brummte, und die ganze Zeit brachen aus ihr feurige Fäden heraus. Die Jaffa-Straße, das karge Tal Hinnom entlang, über die Zelte der Pilger hinweg, flogen vom plötzlich lossausenden Wind gejagte Staubsäulen.
Levi verstummte und strengte sein Hirn an. Wirkt sich das Gewitter, welches gleich ganz Jerschalajim zudecken wird, irgendwie auf das Schicksal des unglückseligen Jeschua aus? Er sah das glühende Garngeflecht die Schwaden durchtrennen und betete. Möge in den Pfahl Jeschuas ein Blitz einschlagen. Voller Reue schaute er zum reinen Himmel empor, den die Wolke noch nicht geschluckt hatte und worin sich die Geier auf denFlügel legten, um dem Sturm zu entgehen. Es war voreilig, Gott zu fluchen. Jetzt schenkt er ihm gewiss kein Gehör mehr.
Levi heftete seinen Blick an den Fuß des Hügels, an jene Stelle, wo das Reiterregiment gestanden hatte. Allenthalben große Veränderungen. Von oben her konnte er gut beobachten, wie die Soldaten rege wurden, ihre Lanzen aus dem Boden zogen, ihre Mäntel über die Schultern warfen. Wie die Pferdewächter flugs zu den Straßen eilten und an den Zäumen die Rappen führten. Keine Frage: der allgemeine Aufbruch. Levi beschirmte mit der Hand sein Gesicht vor dem wirbelnden Staub. Spie aus. Was soll das? Will die Kavallerie etwa schon fort? Er schaute höher. In der Ferne, ganz klein, näherte sich einer im purpurfarbenen Militärgewand dem Hinrichtungsplatz. Und in Vorfreude auf den guten Ausgang erstarrte das Herz des ehemaligen Steuereintreibers.
Welcher da um die fünfte Stunde des Leidens
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