Meistererzählungen
Taschendose, noch halb voll von Zigaret tentabak, die leerte er aus und gab sie ihr.
»Nein, kein Geschenk, gewiß nicht!« versicherte er.
»Nur ein Andenken, daß du mich nicht vergißt.«
»Ich vergesse dich nicht«, sagte sie. Und: »Kommst du wieder?«
Er wurde traurig. Langsam küßte er sie auf beide Augen.
»Ich komme wieder«, sagte er.
Noch eine Weile hörte er, regungslos stehend, ihre Schritte auf den Holzsohlen bergabwärts klingen, über den Wiesengrund, durch den Wald, auf Erde, auf Fels, auf Laub, auf Wurzeln. Nun war sie fort. Schwarz stand der Wald in der Nacht, lau strich der Wind über die erloschene Erde. Ir gend etwas, vielleicht ein Pilz, vielleicht ein welkes Farn kraut, roch scharf und bitter nach Herbst.
Klingsor konnte sich nicht zur Heimkehr entschlie-
ßen. Wozu jetzt den Berg hinaufsteigen, wozu in seine Zimmer zu all den Bildern gehen? Er streckte sich ins Gras und lag und sah die Sterne an, schlief endlich ein und schlief, bis spät in der Nacht ein Tierschrei oder ein Windstoß oder die Kühle des Taus ihn erweckte. Dann stieg er nach Castagnetta hin auf, fand sein Haus, seine Tür, seine Zimmer. Briefe lagen da und Blumen, es war Freundesbesuch dagewesen.
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So müde er war, er packte doch, nach der alten, zä-
hen Ge wöhnung, in aller Nacht noch seine Sachen aus und sah beim Lampenlicht die Skizzenblätter des Tages an. Das Waldin nere war schön, Gekraut und Gestein im lichtdurchzuckten Schatten glänzte kühl und köstlich wie eine Schatzkammer.
Es war richtig gewesen, daß er nur mit Chromgelb, Orange und Blau gearbeitet und das Zinnobergrün weggelassen hatte. Lange sah er das Blatt an.
Aber wozu? Wozu all die Blätter voll Farbe? Wozu all die Mühe, all der Schweiß, all die kurze, trunkene Schaff enslust? Gab es Erlösung? Gab es Ruhe? Gab es Frieden? Erschöpft sank er, kaum entkleidet, ins Bett, löschte das Licht, suchte nach Schlaf und summte leise die Verse Th
u Fus vor sich hin:
»Bald klirrt der Wind Über mein braunes Grab.«
Klingsor schreibt an Louis den Grausamen
Caro Luigi! Lange hat man Deine Stimme nicht mehr ge hört. Lebst Du noch am Lichte? Nagt schon der Geier Dein Gebein? Hast Du einmal mit einer Stricknadel in einer ste hengebliebenen Wanduhr gestochert? Ich tat es einmal, und habe es erlebt, daß plötzlich der Teufel in das Werk fuhr und die ganze vorhandene Zeit abras-selte, die Zeiger machten Wettrennen ums Ziff erblatt, mit einem unheimlichen Ge
räusch drehten sie sich
wahnsinnig fort, prestissimo, bis ebenso plötzlich alles abschnappte und die Uhr den Geist aufgab. Genau so 388
ist es zur Zeit hier bei uns: Sonne und Mond rennen gehetzt wie Amokläufer über den Himmel, die Tage jagen sich, die Zeit läuft einem davon, wie durch ein Loch im Sack. Hoff entlich wird auch das Ende dann ein plötzliches sein und diese betrunkene Welt untergehen, statt wieder in ein bürgerliches Tempo zu fallen.
Die Tage über bin ich zu sehr beschäftigt, als daß ich et was denken könnte (wie komisch das übrigens klingt, wenn man einen solchen sogenannten ›Satz‹ einmal laut vor sich hinsagt: ›als daß ich etwas denken könnte‹)!
Aber am Abend fehlst Du mir oft. Ich sitze dann meistens irgendwo im Wald in einem der vielen Keller und trinke den beliebten Rotwein, der zwar meistens nicht gut ist, aber doch auch das Leben tragen hilft und den Schlaf befördert. Einige Male bin ich sogar am Tisch im Grotto eingeschlafen und habe unter dem Grinsen der Eingeborenen bewiesen, daß es mit meiner Neurasthe-nie doch nicht so schlimm stehen kann. Manchmal sind Freunde und Mädchen dabei, und man übt seine Finger am Plastizin weiblicher Glieder und spricht über Hüte und Absätze und die Kunst. Manchmal glückt es, daß eine gute Temperatur erreicht wird, dann schreien und lachen wir die ganze Nacht, und die Leute freuen sich, daß Klingsor so ein lustiger Bruder ist. Es gibt hier eine sehr hübsche Frau, die jedesmal, wenn ich sie sehe, heftig nach Dir fragt.
Die Kunst, die wir beide treiben, hängt, wie ein Professor sagen würde, noch immer zu eng am Gegenstand 389
(wäre fein als Bilderrätsel darzustellen). Wir malen immer noch, wenn auch mit etwas freier Handschrift und für den Bourgeois aufregend genug, die Dinge der
›Wirklichkeit‹: Menschen, Bäume, Jahrmärkte, Eisenbahnen, Landschaften. Darin fü gen wir uns noch einer Konvention. ›Wirklich‹ nennt ja der Bürger die Dinge, die von allen oder doch vielen ähnlich
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