Meistererzählungen
Nachkom men der alten einheimi-schen Familien auszusterben oder zu verwahrlosen. Es hatte auch die letzte geistige Blüte ihr Ziel längst erreicht, und übrig blieb nur verwesendes Gewebe. Die kleineren Nachbarstädte waren seit längeren Zeiten ganz verschwunden, zu stillen Ruinenhaufen geworden, zu weilen von ausländischen Malern und Touristen besucht, zu weilen von Zigeunern und entfl ohenen Verbrechern be wohnt.
Nach einem Erdbeben, das indessen die Stadt selbst ver schonte, war der Lauf des Flusses verschoben und ein Teil des verödeten Landes zu Sumpf, ein anderer dürr geworden. Und von den Bergen her, wo die Reste uralter Steinbrücken und Landhäuser zerbröckelten, stieg der Wald, der alte Wald, langsam herab. Er sah die weite Gegend öde liegen und zog langsam ein Stück nach dem andern in seinen grü nen Kreis, überfl og hier einen Sumpf mit fl üsterndem Grün, dort ein Steingeröll mit jungem, zähem Nadelholz.
In der Stadt hausten am Ende keine Bürger mehr, nur noch Gesindel, unholdes, wildes Volk, das in den schiefen, einsinkenden Palästen der Vorzeit Obdach nahm und in den ehemaligen Gärten und Straßen seine ma-geren Ziegen wei dete. Auch diese letzte Bevölkerung starb allmählich in Krankheiten und Blödsinn aus, die ganze Landschaft war seit der Versumpfung von Fieber heimgesucht und der Ver lassenheit anheimgefallen.
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Die Reste des alten Rathauses, das einst der Stolz seiner Zeit gewesen war, standen noch immer sehr hoch und mächtig, in Liedern aller Sprachen besungen und ein Herd unzäh liger Sagen der Nachbarvölker, deren Städte auch längst ver wahrlost waren und deren Kultur entartete. In Kinder-Spukgeschichten und melancho-lischen Hirtenliedern tauchten entstellt und verzerrt noch die Namen der Stadt und der ge wesenen Pracht gespenstisch auf, und Gelehrte ferner Völ
ker, deren
Zeit jetzt blühte, kamen zuweilen auf gefährlichen Forschungsreisen in die Trümmerstätte, über deren Geheim nisse die Schulknaben entfernter Länder sich begierig unter hielten. Es sollten Tore von reinem Gold und Grabmäler voll von Edelsteinen dort sein, und die wilden Nomadenstämme derGegend sollten aus alten fabelhaften Zeiten her verschol
lene Reste einer tau-
sendjährigen Zauberkunst bewahren.
Der Wald aber stieg weiter von den Bergen her in die Ebene, Seen und Flüsse entstanden und vergingen, und der Wald rückte vor und ergriff und verhüllte langsam das ganze Land, die Reste der alten Straßenmauern, der Paläste, Tem pel, Museen, und Fuchs und Marder, Wolf und Bär bevöl kerten die Einöde.
Über einem der gestürzten Paläste, von dem kein Stein mehr am Tage lag, stand eine junge Kiefer, die war vor einem Jahre noch der vorderste Bote und Vorläufer des heranwach senden Waldes gewesen. Nun aber schaute auch sie schon wieder weit auf jungen Wuchs hinaus.
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»Es geht vorwärts!« rief ein Specht, der am Stam-me häm merte, und sah den wachsenden Wald und den herrlichen, grünenden Fortschritt auf Erden zufrieden an.
(1910)
Doktor Knölges Ende
Herr Doktor Knölge, ein ehemaliger Gymnasiallehrer, der sich früh zur Ruhe gesetzt und privaten philologi-schen Stu dien gewidmet hatte, wäre gewiß niemals in Verbindung mit den Vegetariern und dem Vegetarismus gekommen, wenn nicht eine Neigung zu Atemnot und Rheumatismen ihn einst zu einer vegetarischen Diätkur getrieben hätte. Der Er folg war so ausgezeichnet, daß der Privatgelehrte von da an alljährlich einige Monate in irgendeiner vegetarischen Heilstätte oder Pension zu-brachte, meist im Süden, und so trotz seiner Abneigung gegen alles Ungewöhnliche und Sonderbare in einen Verkehr mit Kreisen und Individuen geriet, die nicht zu ihm paßten und deren seltene, nicht ganz zu vermei-dende Besuche in seiner Heimat er keineswegs liebte.
Manche Jahre hatte Doktor Knölge die Zeit des Frühlings und Frühsommers oder auch die Herbstmonate in einer der vielen freundlichen Vegetarierpensionen an der südfranzösi schen Küste oder am Lago Maggio-re hingebracht. Er hatte vielerlei Menschen an diesen Orten kennengelernt und sich an manches gewöhnt, an Barfußgehen und langhaarige Apo stel, an Fanatiker des Fastens und an vegetarische Gourmands. Unter den letzteren hatte er manche Freunde gefun den, und er selbst, dem sein Leiden den Genuß schwerer Speisen immer mehr verbot, hatte sich zu einem bescheide nen Feinschmecker auf dem Gebiete der Gemüse und des 138
Obstes ausgebildet. Er war keineswegs mit jedem Endi-viensalat
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