Meistererzählungen
ihren Vor teil und Unterhalt zu ziehen.
Da kamen fl üchtig gegangene Priester und Lehrer aller Kirchen, falsche Hindus, Okkulti sten, Sprachlehrer, Masseure, Magnetopathen, Zauberer, Gesundbeter.
Dieses ganze kleine Volk exzentrischer Exi stenzen bestand weniger aus Schwindlern und bösen Men schen als aus harmlosen Betrügern im Kleinen, denn große Vorteile waren nicht zu gewinnen, und die meisten suchten denn auch nichts anderes als ihren Lebensun-terhalt, der für einen Pfl anzenesser in südlichen Ländern sehr wohlfeil ist.
Die meisten dieser in Europa und Amerika entgleisten Menschen trugen als einziges Laster die so vielen Vegeta riern eigene Arbeitsscheu mit sich. Sie wollten nicht Gold und Genuß, Macht und Vergnügen, sondern sie wollten vor allem ohne Arbeit und Belästigung ihr bescheidenes Leben führen können. Mancher von ihnen hatte zu Fuß ganz Eu ropa wiederholt durchmessen als bescheidener Türklinken putzer bei wohlhabenden Gesinnungsgenossen oder als pre
digender Prophet
oder als Wunderdoktor, und Knölge fand bei seinem Eintreff en in Quisisana manchen alten Bekann ten, der ihn je und je in Leipzig als harmloser Bettler besucht hatte. Vor allem aber traf er Größen und Helden aus allen Lagern des Vegetariertums. Sonnenbraune Männer mit lang wallenden Haaren und Bärten schritten altte-142
stamentlich in weißen Burnussen auf Sandalen einher, andere trugen Sport kleider aus heller Leinwand. Einige ehrwürdige Männer gin gen nackt mit Lendentüchern aus Bastgefl echt eigener Ar beit. Es hatten sich Gruppen und sogar organisierte Vereine gebildet, an gewissen Orten trafen sich die Frugivoren, an anderen die asketischen Hungerer, an anderen die Th
eosophen oder
Lichtanbeter. Ein Tempel war von Verehrern des ame-rikanischen Propheten Davis erbaut, eine Halle diente dem Gottesdienst der Neoswedenborgisten.
In diesem merkwürdigen Gewimmel bewegte sich
Doktor Knölge anfangs nicht ohne Befangenheit. Er besuchte die Vorträge eines früheren badischen Lehrers namens Klauber, der in reinem Alemannisch die Völker der Erde über die Ge schehnisse des Landes Atlantis unterrichtete, und bestaunte den Yogi Vishinanda, der eigentlich Beppo Cinari hieß und es in jahrzehntelan-gem Streben dahin gebracht hatte, die Zahl seiner Herzschläge willkürlich um etwa ein Drittel ver mindern zu können.
In Europa zwischen den Erscheinungen des gewerblichen und politischen Lebens hätte diese Kolonie den Eindruck eines Narrenhauses oder einer phantastischen Komödie ge
macht. Hier in Kleinasien sah das alles
ziemlich verständig und gar nicht unmöglich aus. Man sah zuweilen neue An kömmlinge in Verzückung über diese Erfüllung ihrer Lieb lingsträume mit geisterhaft leuchtenden Gesichtern oder in hellen Freudentränen 143
umhergehen, Blumen in den Händen, und jeden Begeg-nenden mit dem Friedenskuß begrüßend.
Die auff allendste Gruppe war jedoch die der reinen Frugivoren. Diese hatten auf Tempel und Haus und Organisation jeder Art verzichtet und zeigten kein anderes Streben als das, immer natürlicher zu werden und, wie sie sich ausdrückten, ›der Erde näher zu kommen‹. Sie wohnten unter freiem Himmel und aßen nichts, als was von Baum oder Strauch zu brechen war. Sie verachteten alle anderen Vegetarier unmä ßig, und einer von ihnen erklärte dem Doktor Knölge ins Gesicht, das Essen von Reis und Brot sei genau dieselbe Schweinerei wie der Fleischgenuß, und zwischen einem soge nannten Vegetarier, der Milch zu sich nehme, und irgendei nem Säufer und Schnapsbruder könne er keinen Unterschied fi nden.
Unter den Frugivoren ragte der verehrungswürdige Bru der Jonas hervor, der konsequenteste und erfolgreichste Ver treter dieser Richtung. Er trug zwar ein Lendentuch, doch war es kaum von seinem behaarten braunen Körper zu unter scheiden, und er lebte in einem kleinen Gehölz, in dessen Geäste man ihn mit gewandter Hurtigkeit sich bewegen sah. Seine Daumen und großen Zehen waren in einer wunderba ren Rückbildung begriff en, und sein ganzes Wesen und Leben stellte die beharrlichste und gelungenste Rückkehr zur Natur vor, die man sich denken konnte. Wenige Spötter nannten ihn unter sich den Gorilla, im übri-144
gen genoß Jonas die Bewunderung und Verehrung der ganzen Provinz.
Auf den Gebrauch der Sprache hatte der große
Rohkostler Verzicht getan. Wenn Brüder oder Schwestern sich am Rande seines Gehölzes unterhielten, saß er zuweilen auf ei nem Aste zu ihren Häupten, grinste
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