Meistererzählungen
zufrieden und hätte niemals eine kalifornische Orange für eine italienische gegessen. Im übrigen kümmerte er sich wenig um den Vegetarismus, der für ihn nur ein Kurmittel war, und interessierte sich höchstens gelegentlich für alle die famosen sprachlichen Neubil-dungen auf diesem Gebiete, die ihm als einem Philolo-gen merkwürdig waren. Da gab es Vegetarier, Vegeta-rianer, Vegetabilisten, Rohkostler, Frugivoren und Gemischtkostler!
Der Doktor selbst gehörte nach dem Sprachgebrauch der Eingeweihten zu den Gemischtkostlern, da er nicht nur Früchte und Ungekochtes, sondern auch gekochte Gemüse, ja auch Speisen aus Milch und Eiern zu sich nahm. Daß dies den wahren Vegetariern, vor allem den reinen Rohkostlern strenger Observanz, ein Greuel war, entging ihm nicht. Doch hielt er sich den fanatischen Bekenntnisstreitigkeiten dieser Brüder fern und gab seine Zugehörigkeit zur Klasse der Gemischtkostler nur durch die Tat zu erkennen, während man che Kollegen, namentlich Österreicher, sich ihres Standes auf den Vi-sitenkarten rühmten.
Wie gesagt, Knölge paßte nicht recht zu diesen Leuten. Er sah schon mit seinem friedlichen, roten Gesicht und der brei ten Figur ganz anders aus als die meist hageren, asketisch blickenden, oft phantastisch gekleide-ten Brüder vom reinen Vegetarismus, deren manche die Haare bis über die Schul tern hinab wachsen ließen 139
und deren jeder als Fanatiker, Be kenner und Märtyrer seines speziellen Ideals durchs Leben ging. Knölge war Philolog und Patriot, er teilte weder die Menschheits-gedanken und sozialen Reformideen noch die abson-derliche Lebensweise seiner Mitvegetarier. Er sah so aus, daß an den Bahnhöfen und Schiff haltestellen von Locarno oder Pallanza ihm die Diener der weltlichen Hotels, die sonst jeden ›Kohlrabiapostel‹ von weitem rochen, ver trauensvoll ihre Gasthäuser empfahlen und ganz erstaunt waren, wenn der so anständig aussehende Mensch seinen Koff er dem Diener einer Th
alysia oder
Ceres oder dem Eselsführer des Monte Verità übergab.
Trotzdem fühlte er sich mit der Zeit in der ihm fremden Umgebung ganz wohl. Er war ein Optimist, ja beinahe ein Lebenskünstler, und all mählich fand er unter den Pfl anzenessern aller Länder, die jene Orte besuchten, namentlich unter den Franzosen, man chen friedlieben-den und rotwangigen Freund, an dessen Seite er seinen jungen Salat und seinen Pfi rsich ungestört in behagli-chen Tischgesprächen verzehren konnte, ohne daß ihm ein Fanatiker der strengen Observanz seine Gemischt-kostlerei oder ein reiskauender Buddhist seine reli giöse Indiff erenz vorwarf.
Da geschah es, daß Doktor Knölge erst durch die Zeitungen, dann durch direkte Mitteilungen aus dem Kreise seiner Bekannten von der großen Gründung der Internationalen Vegetarier-Gesellschaft hörte, die ein gewaltiges Stück Land in Kleinasien erworben hatte und 140
alle Brüder der Welt bei mäßigsten Preisen einlud, sich dort besuchsweise oder dau ernd niederzulassen. Es war eine Unternehmung jener ideali stischen Gruppe deutscher, holländischer und österreichi scher Pfl anzenesser, deren Bestrebungen eine Art von vege tarischem Zio-nismus waren und dahin zielten, den Anhän gern und Bekennern ihres Glaubens ein eigenes Land mit eigener Verwaltung irgendwo in der Welt zu erwerben, wo die natürlichen Bedingungen zu einem Leben vorhanden wä-
ren, wie es ihnen als Ideal vor Augen stand. Ein Anfang dazu war diese Gründung in Kleinasien. Ihre Aufrufe wandten sich ›an alle Freunde der vegetarischen und ve-getabilistischen Lebensweise, der Nacktkultur und Le-bensreform‹ und sie versprachen so viel und klangen so schön, daß auch Herr Knölge dem sehnsüchtigen Ton aus dem Paradies nicht wi derstand und sich für den kommenden Herbst als Gast dort anmeldete.
Das Land sollte Obst und Gemüse in wundervoller Zart heit und Fülle liefern, die Küche des großen Zentral-hauses wurde vom Verfasser der ›Wege zum Paradiese‹
geleitet, und als besonders angenehm empfanden viele den Umstand, daß es sich dort ganz ungestört ohne den Hohn der argen Welt würde leben lassen. Jede Art von Vegetarismus und von Klei dungsreformbestrebung war zugelassen, und es gab kein Verbot als das des Genusses von Fleisch und Alkohol.
Und aus allen Teilen der Welt kamen fl üchtige
Sonder linge, teils um dort in Kleinasien endlich Ruhe 141
und Behagen in einem ihrer Natur gemäßen Leben zu fi nden, teils um von den dort zusammenströmenden Heilsbegierigen
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