Meistererzählungen
etwas verlo rengegangen, was früher in der Welt war, ein ge-127
wisser un schuldiger Duft und Liebreiz, und ich weiß nicht, ob das wie derkommen kann.
(1908)
Die Stadt
»Es geht vorwärts!« rief der Ingenieur, als auf der gestern neugelegten Schienenstrecke schon der zweite Eisenbahnzug voll Menschen, Kohlen, Werkzeugen und Lebensmitteln an kam. Die Prärie glühte leise im gelben Sonnenlicht, blaudun stig stand am Horizont das hohe Waldgebirge. Wilde Hunde und erstaunte Präriebüff el sahen zu, wie in der Einöde Ar beit und Getümmel an-hob, wie im grünen Lande Flecken von Kohlen und von Asche und von Papier und von Blech ent standen. Der erste Hobel schrillte durch das erschrockene Land, der erste Flintenschuß donnerte auf und verrollte am Gebirge hin, der erste Amboß klang helltönig unter raschen Hammerschlägen auf. Ein Haus aus Blech entstand, und am nächsten Tage eines aus Holz, und andere, und täglich neue, und bald auch steinerne. Die wilden Hunde und Büff el blie ben fern, die Gegend wurde zahm und fruchtbar, es wehten schon im ersten Frühjahr Ebenen voll grüner Feldfrucht, Höfe und Ställe und Schuppen ragten daraus auf, Straßen schnitten durch die Wildnis.
Der Bahnhof wurde fertig und eingeweiht, und das Regie rungsgebäude, und die Bank, mehrere kaum um Monate jün gere Schwesterstädte erwuchsen in der Nähe.
Es kamen Ar beiter aus aller Welt, Bauern und Städter, es kamen Kaufl eute und Advokaten, Prediger und Lehrer, es wurde eine Schule gegründet, drei religiöse Gemein-129
schaften, zwei Zei
tungen. Im Westen wurden Erdöl-
quellen gefunden, es kam großerWohlstand in die junge Stadt. Noch ein Jahr, da gab es schon Taschendiebe, Zu-hälter, Einbrecher, ein Waren haus, einen Alkoholgegner-bund, einen Pariser Schneider, eine bayrische Bierhalle.
Die Konkurrenz der Nebenstädte beschleunigte das Tempo. Nichts fehlte mehr, von der Wahl rede bis zum Streik, vom Kinotheater bis zum Spiritistenverein. Man konnte französischen Wein, norwegische Heringe, italienische Würste, englische Kleiderstoff e, russischen Ka viar in der Stadt haben. Es kamen schon Sänger, Tänzer und Musiker zweiten Ranges auf ihren Gastreisen in den Ort.
Und es kam auch langsam die Kultur. Die Stadt, die an-fänglich nur eine Gründung gewesen war, begann eine Hei mat zu werden. Es gab hier eine Art, sich zu grüßen, eine Art, sich im Begegnen zuzunicken, die sich von den Arten in an dern Städten leicht und zart unterschied.
Männer, die an der Gründung der Stadt teilgehabt hatten, genossen Achtung und Beliebtheit, ein kleiner Adel strahlte von ihnen aus. Ein junges Geschlecht wuchs auf, dem erschien die Stadt schon als eine alte, beinahe von Ewigkeit stammende Heimat. Die Zeit, da hier der erste Hammerschlag erschollen, der erste Mord geschehen, der erste Gottesdienst gehalten, die erste Zeitung gedruckt worden war, lag ferne in der Vergangen heit, war schon Geschichte.
Die Stadt hatte sich zur Beherrscherin der Nachbarstädte und zur Hauptstadt eines großen Bezirkes 130
erhoben. An brei ten, heiteren Straßen, wo einst neben Aschenhaufen und Pfützen die ersten Hütten aus Brettern und Wellblech ge standen hatten, erhoben sich ernst und ehrwürdig Amtshäu ser und Banken, Th
eater und
Kirchen, Studenten gingen schlendernd zur Universität und Bibliothek, Krankenwagen fuhren leise zu den Kli-niken, der Wagen eines Abgeordneten wurde bemerkt und begrüßt, in zwanzig gewaltigen Schul häusern aus Stein und Eisen wurde jedes Jahr der Grün dungstag der ruhmreichen Stadt mit Gesang und Vorträgen gefeiert.
Die ehemalige Prärie war von Feldern, Fabriken, Dörfern bedeckt und von zwanzig Eisenbahnlinien durchschnitten, das Gebirge war nahegerückt und durch eine Bergbahn bis ins Herz der Schluchten erschlossen.
Dort, oder fern am Meer, hatten die Reichen ihre Sommerhäuser.
Ein Erdbeben warf, hundert Jahre nach ihrer Gründung, die Stadt bis auf kleine Teile zu Boden. Sie erhob sich von neuem, und alles Hölzerne ward nun Stein, alles Kleine groß, alles Enge weit. Der Bahnhof war der größte des Landes, die Börse die größte des ganzen Erdteils, Architekten und Künstler schmückten die verjüngte Stadt mit öff entlichen Bauten, Anlagen, Brunnen, Denkmälern. Im Laufe dieses neuen Jahrhunderts erwarb sich die Stadt den Ruf, die schönste und reichste des Landes und eine Sehenswürdigkeit zu sein. Politiker und Architekten, Techniker und Bürger meister fremder Städte kamen gereist, um die
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