Meistererzählungen
das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl hatte durchaus mit der Empfi ndung eines ärgerlichen Zufalls oder Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von jeder Aufl ehnung und glich mehr einer zwar bitteren, doch entschiedenen Zustim mung zu dem Geschehenen. Dies Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen Gemüt, der äußeren und inne ren Notwendigkeit, dessen ganz geringe Menschen niemals fähig sind, rettete den armen betrogenen Pater vor der Ver zweifl ung. Er dachte nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch List rein-zuwaschen und wieder in Ehre und Achtung zurückzu-stehlen, noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. Nein, er fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte Notwendigkeit, die ihn zwar traurig machte, gegen welche er jedoch mit keinem Gedanken protestier-te. Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch verbor gen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm die Empfi n dung einer großen Erlösung vorhanden, da jetzt unzweifel haft seiner bisherigen Unzufriedenheit und dem unklaren, durch Jahre geführten und verheimlichten Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie früher zuweilen nach kleine ren Verfehlungen die schmerzliche innere Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl kniet und dem zwar eine Demütigung und Bestrafung bevorsteht, dessen Seele aber die beklemmende Last verheimlichter Taten schon weichen fühlt.
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Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, keines wegs im klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt aus dem Orden schon genommen und Verzicht auf alle Ehren getan, so schien es ihm doch ärgerlich und recht unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen einer feierlichen Aus stoßung und Verurteilung ausko-sten zu sollen. Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so schändliches Verbre chen begangen, und das viele Klostergeld hatte ja nicht er ge stohlen, sondern of-fenbar jener Herr Breitinger.
Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes zu geschehen habe; denn blieb er länger als noch diesen Tag dem Kloster fern, so entstand Verdacht und Un tersuchung und ward ihm die Freiheit des Handelns abge schnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, rasch gesättigt und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, mit müden Au gen durchs Fenster auf die Stra-
ße hinaus, genau wie er es ge stern ungefähr um dieselbe Zeit getan hatte.
Indem er seine Lage hin und her bedachte, fi el es ihm grausam auf die Seele, daß er auf Erden keinen einzigen Menschen habe, dem er mit Vertrauen und Hoff nung seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und riete, der ihn zurecht weise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt, den er erst vor ei ner Woche erlebt und schon völlig wieder vergessen hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich in seinem Ge dächtnis auf: der junge halb-174
gescheite Laienbruder in seiner verfl ickten Kutte, wie er am heimischen Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und beschwörend.
Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang sei nen Blick, dem Straßenleben draußen zu folgen. Da trat ihm, auf seltsamen Umwegen der Erinnerung, mit einem Male ein Namen und eine Gestalt vor die Seele, woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.
Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, jener reichen jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst kürzlich bewundert und deren anmutig strenges Bild ihn heimlich be gleitet hatte. Er schloß die Augen und sah sie, im grauseide nen Kleide, mit dem klugen und beinahe spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig entschlossene Ton ih rer hellen Stimme und der feste, ruhig beobachtende Blick ihrer Augen ihm wieder vorschwebte, desto leichter, ja selbstverständlicher schien es ihm, das Vertrauen dieser un gewöhnlichen Frau in seiner ungewöhnlichen Lage anzuru fen.
Dankbar und froh, das nächste Stück seines Wegs endlich klar vor sich zu sehen, machte er sich sofort daran, seinen Entschluß auszuführen. Von dieser Minute an bis zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner stand, tat er jeden Schritt si cher und rasch, nur ein einzigesmal geriet er ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes wieder erreichte, wo er gestern seinen Sünden-175
wandel begonnen hatte und wo seither sein Köff erchen in Verwahrung stand. Er war des Sinnes gewesen, wieder als Pater in der
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