Meisterin der Runen
Odin, der Gott der Dichter und der Zauberer. Er bannt nicht die Mächte des Chaos wie Tyr, er sorgt nicht für ein gemütliches Heim wie Frigg, er lebt nicht in einem prächtigen Palast wie Baldur, wo es keinen Schmutz gibt. Er ist nicht schön wie Freyja, nicht fruchtbar und unersättlich in ihrer Wollust wie sie, er hat kein goldenes Haar wie Sif, und er kennt keine List wie Loki. Nichts kann er, nichts ist er!«
Gunnora hatte schweigend gelauscht. Tief in ihr drinnen rührte sich ein Schmerz, von dem sie nicht sicher war, ob er ihr selbst, Gyrid oder den toten Eltern galt. So oder so zeigte sie ihn nicht, sondern blieb entschlossen.
»Dass wir der Götter so viele haben, gereicht uns nicht immer zum Vorteil. Sie sind eifersüchtig aufeinander und streitbar, sie führen stets Kriege und verlangen von uns Menschen, Partei zu ergreifen. Wie soll auf diese Weise Frieden herrschen auf der Welt?«
»Ich dachte, du wolltest nicht Frieden, sondern Rache«, zischte Gyrid.
»Will Agnarr Rache?«, fragte Gunnora.
Gyrid schwieg – erst verstockt, dann grinsend. Offenbar hatte sie erkannt, dass es eine Möglichkeit gab, Gunnora zuzusetzen und ihr Angst zu machen.
Gunnora unterdrückte ein Schaudern. Sie ahnte, dass Gyrid mehr über Agnarrs Verbleib und dessen Pläne wusste, als sie ihr sagen wollte, und auch, dass sie es mit Gewalt aus ihr herausbekommen könnte. Aber sie hatte in ihrem Leben genug Gewalt gesehen.
»Geh!«, befahl sie knapp. »Und wage es nicht noch einmal, mich zur Rede zu stellen!«
Gyrid rührte sich nicht. »Er lebt noch«, flüsterte sie, »er wartet immer noch auf eine Möglichkeit, Richard zu vertreiben … und dich auch.«
Erneut wahrte Gunnora die Fassung. »Warum stehst du auf seiner Seite?«, fragte sie. »Ich habe aller Welt bekundet, dass er selbst meine Eltern getötet hat, nicht etwa Richards Männer. Du solltest ihn hassen, nicht mich.«
»Das ist eine Lüge! Und er wird dich dafür strafen, dass du sie in die Welt gesetzt hast!«
Was könnte er mir antun, was er mir nicht schon angetan hat?, fragte sich Gunnora.
»Geh!«, sagte sie wieder.
Endlich löste sich Gyrid aus ihrer Starre, ging zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Agnarr mag fürs Erste verloren haben, aber er wird wieder erstarken. Du solltest dich vor ihm schützen, und das gelingt dir nicht, indem du betest, sondern indem du Runen schnitzt.«
Sie blieb nicht lang genug, um zu erleben, wie Gunnora von Zweifeln zerrissen wurde. Voller Sorge strich sie sich über den Leib. Er war so schwer nun und das Kind so ungeduldig. Sie konnte spüren, wie es auf die Welt drängte, als wäre diese ein verheißungsvoller, schöner, glücklicher Ort.
Gewiss, sie könnte heimlich auf die Macht der Runen setzen, weil sie daran nicht recht glaubte. Sie könnte es aber auch ihrem Kind gleichtun und der Macht des Lebens trauen, das Tod und Verderben zwar nicht leugnete, ihm jedoch stets Neubeginn entgegensetzte.
F ÉCAMP
996
Wevia, Agnes und Emma machten betretene Gesichter.
»Was tut ihr hier?«, traf sie eine strenge Stimme. »Und woher habt ihr diese Schriftrolle?«
Wevia wusste, dass es keinen Sinn ergab, sie länger zu verbergen, und überreichte sie bereitwillig der Frau, die eben die Kapelle betreten hatte.
»Agnes«, sagte sie schnell, »Agnes hat sie bei der Gräfin gefunden.«
Agnes entging nicht, dass sie erleichtert klang, konnte sie doch die Verantwortung auf diese Weise abgeben. Auch Emma schien froh, dass ihr Name unerwähnt blieb. Es gab nur wenige Menschen, die der jüngsten Tochter des Grafen Respekt einflößen konnten – und Agnes’ Mutter war eine von diesen.
Gewiss, keine wusste so gut wie Agnes, dass sie auch herzlich, liebevoll und zärtlich sein konnte, doch ihr weiches Gesicht zeigte sie nur vor wenigen, die anderen erlebten sie als strenge, nahezu unerbittliche Frau, umso mehr, nachdem ihr Mann, Agnes’ Vater, wenige Jahre zuvor gestorben war.
Auch jetzt sah sie Agnes ungnädig an.
»Was hattest du im Gemach der Gräfin zu suchen?«
»Ich bin doch nur den Mönchen gefolgt!«
Hastig erklärte sie, was geschehen war. Die Strenge im Gesicht der Mutter wich Betroffenheit. Und Wevia, zunächst noch bestrebt, sich unbeteiligt zu geben, begann bei jedem Wort zustimmend zu nicken.
»Ich hatte ja keine Ahnung«, fügte sie hinzu, als Agnes geendet hatte. »Ich meine … ich wusste zwar, dass …«
Welches Gestammel! Doch selbst die unfertigen Sätze genügten, um Agnes darin zu
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