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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Tag um sie. Aber sie erleben nun mal nicht, wie Duvelina wächst, wie viel klüger Wevia von Tag zu Tag wird, wie meine Erinnerungen an Dänemark verblassen. Sie wissen nicht, dass du im Wald lebst, fern deiner Schwestern. Du musst ihnen nichts beweisen, Gunnora, wir alle müssen das nicht. Wir müssen nur überleben, darüber würden sie sich am meisten freuen.«
    »Aber wir müssen als Däninnen überleben. Wir sind ein stolzes, starkes Volk, Nachkommen von Antenor, der aus Troja stammte, und dessen Sohn Danus der Stammvater einer Familie wurde, die sich mit den Goten und Tausenden anderen Stämmen vermischten, die allesamt von ihrem Glauben an Thor und Odin geeint waren. Vater hat uns das von klein auf eingebläut. Hätte er gewusst, dass du das eines Tages einfach vergessen wirst, wäre er vor Gram gestorben!«
    »Ich habe das nicht vergessen. Aber bedenke: Unser Vater hat Dänemark mit uns verlassen, und das aus gutem Grund. Dänemark ist voller unwirtlicher Wälder, nur winzige Landstücke in Küstennähe eignen sich für den Pflug. Hier ist das anders.«
    »Was weißt du schon davon?«, schnaubte Gunnora.
    »Gewiss, Samo ist ein Waldhüter, kein Bauer, doch in jedem Fall bietet er uns ein gutes Leben. Und du könntest das auch haben, wenn du es dir nicht so schwer machen würdest. Er wäre jederzeit bereit, dir seine Tür zu öffnen, und mit Hilde lässt es sich leben, so man sie denn zu nehmen weiß. Alle Menschen haben Eigenarten, doch wenn man sie duldet, kann man mit ihnen auskommen.«
    »Dass sie Franken sind, ist mehr als eine Eigenart. Sie gehören zu einem Volk von Mördern.«
    »Wir leben hier einsam im Wald, hier tötet man Tiere, keine Menschen. Und kein Volk bringt nur Mörder hervor. Wärest du wirklich davon überzeugt, würdest du auch den Frauen nicht helfen, die zu dir kommen. Nicht alle stammen aus dem Norden, etliche sind mit Franken verwandt oder vermählt.«
    Gunnora schnaubte unwillig. »Gewiss. Und dennoch lastet der Gedanke auf mir, dass der Tod unserer Eltern nicht gerächt wurde. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich diesem Christen erneut begegne. Ach, wie gern würde ich ihn töten, ihn aufhängen, seine Haut aufschneiden, auf dass das Blut aus ihm fließt. Erst wenn es bis zum letzten Tropfen vergossen und diese Erde damit getränkt wurde, dann …«
    Je länger sie sprach, desto dunkler klang ihre Stimme, und desto härter wurden ihre Züge.
    »Gunnora!«, rief Seinfreda entsetzt. »Ich dachte stets, die Einsamkeit mache dich so kalt, doch anscheinend sind es Grausamkeit und Rachsucht. Setz nicht darauf! Am Ende ist es dein Blut, das fließt!«
    »Unsere Götter sind allesamt grausam und rachsüchtig«, bestand Gunnora auf ihren Worten. »Sie erlauben sich keine Schwäche, scheuen keine Schlacht, kämpfen gegeneinander und gegen die Riesen. Sie wissen, dass der Weltenbaum, auf dem sie stehen, verfault und dass die Welt im Chaos untergehen wird, aber sie lassen sich doch nicht abhalten, sich bis zum letzten Atemzug zu behaupten.«
    »Nicht alle Götter sind Krieger. Die Vanen stehen für Erde, Reichtum und Fruchtbarkeit.«
    »Siehst du!«, rief Gunnora triumphierend. »Du hast ja doch nicht vergessen, wer wir sind und woher wir kommen.«
    »Ich werde es auch nie vergessen, aber das ändert nichts daran, dass ich mir ein Leben in Frieden wünsche ohne Kampf und Blutvergießen. Was ist daran falsch?«
    »Nichts«, gestand Gunnora widerwillig ein. »Ich bin auch dankbar, dass der Christ einst nur mich gesehen hat, nicht euch. Doch falls er mir je vor Augen kommt …«
    Seinfreda blickte zweifelnd. Sie sagte es zwar nicht laut, aber dachte wohl, dass das im Wald nicht zu erwarten stand, und Gunnora gab ihr insgeheim recht, obwohl sie nicht offen zugeben wollte, dass dieser Gedanke sie mehr erleichterte als bestürzte.
    Schweigend standen sie eine Weile voreinander, ehe Seinfreda sich vorbeugte und sie umarmte. Obwohl sie so zart war, war der Druck ihrer Hände fest.
    »Und du willst dir wirklich nicht von mir helfen lassen?«, fragte Gunnora.
    »Dich zu sehen und mit dir zu reden, ist mir Hilfe genug«, murmelte Seinfreda. »Pass auf dich auf!«
    »Ich lebe nicht allein hier. Die Wesen des Waldes sind bei mir und bewachen mich.«
    Ihre Stimme klang fröhlicher, als ihr zumute war, und Seinfreda lächelte strahlender, als es in ihrem Inneren aussah.
    Alsbald verschwand sie wieder im Dickicht, und Gunnora sah ihr lange nach. Sie lauschte auf jeden ihrer Schritte, bis sie verklungen waren.

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