Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
sondern auch blind, denn seine eigenen Gefühle zu bezwingen bedeutet, auch die der anderen nicht zu sehen.
    Längst war er für sie nicht mehr der strahlende Held ihrer Kindheit, für den das Leben ein Spiel war, aber all seiner Schwächen zum Trotz blieb ihre Liebe zu ihm stark, ohne sie selbst stark zu machen. Sie blieb verwundbar, trotzig … schlaflos.
    Unruhig wälzte sie sich auf den Rücken, lauschte auf die Atemzüge anderer Mädchen, fühlte endlich, wie die Lider schwerer und schwerer wurden. Just als der Schlaf sie übermannte, blendete grelles Licht ihre Augen. Sie fuhr hoch, sah eine Fackel, aber nicht den, der sie hielt.
    Die anderen Mädchen schrien auf, ihr selbst wurde der Mund trocken. Sie fühlte Gefahr, noch ehe jemand davon kündete.
    Wenn ich geschlafen hätte und geträumt, wüsste ich, was bevorsteht …, dachte sie.
    So aber war sie der Zukunft ausgeliefert wie die anderen Mädchen.
    »Was ist los, was ist passiert, warum werden wir mitten in der Nacht geweckt?«
    Die Fackel kam näher, und dahinter wurde ihre Mutter sichtbar.
    »Schnell, steht auf!«, rief sie. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen!«
    Es war stockdunkel, das Morgengrauen noch von den Flügeln der Nacht bedeckt, die Sterne von Wolken verborgen, der Hof jedoch, wo sich zu dieser Zeit gewöhnlich nur Wachtposten herumtrieben oder Betrunkene, die vergebens die Latrinen suchten, war überfüllt von Menschen. Die einen waren schon bekleidet, die anderen nur von Fellen bedeckt, kopflos schienen sie alle. Es waren keine Männer des Krieges, die panisch im Kreis liefen, denn diese hatten größtenteils die Stadt verlassen, sondern Notare, Knechte, Mönche. Alle riefen sie durcheinander, doch im Meer der Stimmen gab es keine einzige, die auf Alrunas Fragen antwortete.
    Auch ihre Mutter sagte nichts. Ihre Lippen rieben aufeinander, ihr Gesicht war blass, das ihres Vaters, zu dem Mathilda sie gebracht hatte, fast grau. Er umarmte Alruna, als hätte er sie seit Wochen nicht gesehen.
    »Vater …«, setzte sie an.
    »Kleide dich an, wir müssen vielleicht aus Rouen fliehen.«
    Sie spürte weder die Kälte noch, wie ihr die Mutter einen Umhang um die Schultern legte. Der Hof war mittlerweile zu klein für all die Menschen geworden, die ins Freie stürmten und deren Panik nicht einmal die kalte Nachtluft zu bezwingen vermochte. Sie schienen davon überzeugt, dass sie hier nicht sicher waren – so wenig wie in den Häusern.
    »Richard … wo ist Richard?«, rief Alruna.
    »Er muss um sein Land kämpfen …«
    Die Stimme des Vaters klang belegt. Erst nachdem er tief durchgeatmet hatte, konnte er fortfahren.
    Wie alt er geworden ist, dachte Alruna bei jedem seiner Worte, er erträgt die Sorge um den Grafen nicht so stoisch wie in seiner Jugend. Und wenn es auch mir so geht – wenn ich irgendwann zu alt geworden bin, um meine Liebe zu ertragen?
    Sie schüttelte den Gedanken ab und versuchte, sich auf das Gesagte zu konzentrieren.
    Nach den gescheiterten Attentatsversuchen hatte Thibaud von Chartres eingesehen, dass er Richard kein drittes Mal aus der Normandie würde locken können. Er rüstete sich zum offenen Kampf, traf sich mit den benachbarten Grafen in Melun, warb unter ihnen um Verbündete und hatte schließlich ein paar Tage zuvor die Grenze überschritten. Es war ohne Zweifel ein waghalsiges Unternehmen, denn die normannische Truppe wurde zu Recht als stark und stattlich gerühmt, doch vorerst schien der Plan aufzugehen. Évreux, eine große Stadt südlich von Rouen, war Thibaud le Tricheur bereits in die Hände gefallen. Guillebert Maschrel, der Kommandant der Garnison, hatte kampflos aufgegeben, nicht nur, wie der Vater ihr erklärte, weil er zu wenige Männer um sich scharte, sondern weil ihn Thibaud mit Gold bestochen hatte.
    Richard war verraten worden …
    Um wie viel kälter würde das seine Augen machen, um wie viel härter seinen Spott, um wie viel blinder seine Seele!
    »Und jetzt?«, fragte sie atemlos.
    »Thibaud von Chartres sieht sich schon als neuen Grafen der Normandie. Er kampiert mit seinen Truppen im Wald von Rouvray.«
    Dieser Wald befand sich ganz in der Nähe der Hauptstadt.
    »Und jetzt?«, fragte sie wieder.
    Mathilda mischte sich nun ein. »Eigentlich haben wir beschlossen, aus Rouen zu fliehen. Wenn Richard die anstehende Schlacht verliert, werden die Feinde als Erstes die Stadt einnehmen. Nun aber …«
    Sie brach ab.
    »Wenn wir gehen, geraten wir den feindlichen Soldaten womöglich erst recht in die

Weitere Kostenlose Bücher