Meisterin der Runen
Anstatt endlich zu essen, setzte sie sich und ritzte eine weitere Rune in eine Stück Holz. Auch wenn Seinfreda es nicht wollte – vielleicht konnte sie die Götter auf diese Weise doch bewegen, ihr ein Kind zu schenken.
Sie wusste, es war Seinfredas größter Wunsch, obwohl sie ihn selbst mitnichten nachempfinden konnte. Gern würde sie selbst für alle Zeiten auf Nachkommen verzichten, wenn ihr nur einmal noch eine Mutter zur Seite stünde, die sie viel länger umarmte als eben Seinfreda, sie wärmte, sie liebkoste, sie tröstete und ihr zu wissen gab: Lass mich nur machen, dann wird alles gut.
Alruna konnte nicht schlafen, unruhig wälzte sie sich hin und her. Sie lag unter einer warmen Decke aus Schaffell und fühlte sich dennoch schutzlos. Tagsüber hielt sie trotzig an täglicher Routine fest, um sich quälender Gefühle und Gedanken zu erwehren, doch wenn die Dunkelheit kam, huschten sie wie Dämonen aus ihren Verstecken, um über sie herzuziehen und sie zu verspotten.
Die Zeit vergeht, und du wirst alt, ohne dein Glück zu finden, war das herzlose Lied der einen.
Richards Herrschaft ist immer noch nicht gesichert, auf jedes Komplott seiner Feinde folgt ein zweites, und irgendwann werden sie ihn zu Fall bringen, das der anderen.
Am meisten setzte ihr die dritte Stimme zu, die ihrer nicht spottete, sondern lediglich eine Frage raunte: Wenn er denn stürbe, wärest du dann endgültig verflucht dazu, unglücklich zu sein, oder nicht vielmehr von aller Qual befreit?
Alruna wollte die Antwort darauf nicht kennen, wollte nicht einmal die Frage hören!
Sie drehte sich auf den Bauch und barg ihr Gesicht in einem Kissen. Es war mit Daunen gefüllt und so weich, dass es jedes Seufzen und jede Träne schluckte. Schlaf schenkte es zwar nicht, aber schließlich, sagte sich Alruna, ist es besser, wach zu liegen, als zu träumen. Oft hatte sie in den letzten Wochen geträumt – nicht selten von der Zukunft, und diese war niemals schön.
Wenige Monate, nachdem Bischof Bruno vergeblich versucht hatte, Richard ins Verderben zu locken, rüstete man sich zu einem neuen Attentat. Wieder steckte Thibaud von Chartres dahinter, doch dieses Mal suchte er nicht die Hilfe eines Geistlichen, sondern die des fränkischen Königs. Lothar unterbreitete Richard das Angebot, an seiner Seite gegen Thibaud zu kämpfen, und um Details des Kriegszugs zu besprechen, schlug er ein Treffen vor – auf einer Insel, die sich inmitten des Flusses Epte erhob. Hier hatten sich Herrscher schon öfter die Hand gereicht. Die Insel war klein, unbewaldet und völlig schutzlos.
Alruna musste dem Grafen nicht tagelang nachreiten, um ihn zu warnen. Längst hatte sich das Misstrauen als einer seiner trefflichsten Berater erwiesen. Anstatt mit Booten zur Insel aufzubrechen, versteckte er sich mit seinen Truppen im Wald und schickte einige Männer zum Auskundschaften los. Bald kehrten diese mit einer verstörenden, aber nicht unerwarteten Botschaft zurück: Entgegen dem Versprechen hatten sich Lothars königliche Truppen mit denen von Thibaud le Tricheur vereint, um gemeinsame Sache gegen Richard zu machen.
Richard trieb den gleichen Spott mit Lothar, wie er ihn damals mit Bruno getrieben hatte – er ließ ihn stundenlang auf der Insel warten, bis seine Schmach offensichtlich war. Anders als Bruno wollte Lothar die Demütigung jedoch nicht auf sich sitzen, sondern vielmehr die Waffen spielen lassen und setzte prompt mit seinem Heer über den Fluss.
Doch Richard hatte nicht nur gelernt, misstrauisch zu sein, er war auch listig geworden. Dass seine Männer einer Übermacht gegenüberstanden, schüchterte ihn nicht ein. Er rüstete einfache Bauern mit Waffen aus, schickte sie den Truppen entgegen, und da jene dachten, sie hätten ein leichtes Spiel, wurden sie nachlässig und achteten nicht auf den Hinterhalt von Richards besten Männern.
Viel Blut floss an diesem Tag – das von Richard nicht.
Er kehrte mit dem stolzen Lächeln zurück nach Rouen, das Alruna zugleich liebte und fürchtete, und mit dem harten Blick, den sie kaum ertrug. Er trank, feierte und zog sich mit drei seiner Konkubinen zurück. Eine von ihnen gebar neun Monate später ein Töchterlein, Papie geheißen, das wie die anderen Bastarde bei Hof aufgezogen wurde, ohne dass Richard es jemals eingehend musterte.
Man nennt ihn Richard den Furchtlosen, dachte Alruna, und preist ihn für seinen Mut. Doch keiner sieht, was dieser Mut ihn kostet. Nicht nur furchtlos ist er geworden,
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