Meisterin der Runen
»Das glaube ich erst, wenn ich weiß, was diese Zeichen bedeuten.«
»Aber wie wollen wir das herausfinden?«
Die beiden Mädchen vertieften sich erneut in die Schriften. Mittlerweile wirkten die Zeichen nicht mehr so fremd und furchteinflößend, aber sie waren ihnen immer noch ein Rätsel.
»Du meintest vorhin, das sei Zauberei«, murmelte Agnes.
Emma nickte. Ihr Gesicht hatte mittlerweile wieder ein wenig Farbe bekommen. »Ich würde nur zu gern wissen, wer mit einem Zauber belegt werden soll!«, rief sie.
»Woher weißt du überhaupt, dass …«
»Man nennt sie Runen«, erklärte Emma hastig. »Ich habe einmal gehört, dass es sechzehn verschiedene Runen gibt, manche behaupten, dass sogar vierundzwanzig davon im Gebrauch seien.«
»Und kennst du wenigstens eine?«
Emma gab sich gern besserwisserisch, doch jetzt musste sie wohl oder übel den Kopf schütteln. Agnes’ Aufregung hingegen wuchs. Wie verlockend die Vorstellung war, eine Schrift zu beherrschen, die nur wenigen Eingeweihten vertraut war! Und gar, damit Zauber zu treiben!
Nicht, dass sie irgendjemandem Schaden zufügen wollte. Aber mit Zauberei ließ sich bestimmt verhindern, dass sie immer nur Dinkelbrei essen musste anstatt weichem Brot. Vielleicht konnte ein Zauber überdies bewirken, dass sie mehr Kleider bekam, dass der Rauch nicht immer ganz so quälend dicht stand, dass der Graf noch länger lebte.
Allerdings: Die Mutter hatte ihr erklärt, dass der Graf alt sei, ein erfülltes Leben hinter sich habe und nun heim zu Gott gehe, und das sei nichts, wovor man sich fürchten oder das man gar abwenden müsse.
In jedem Fall käme ihr ein Zauber eben recht, um Bruder Remi und Bruder Ouen für ihre Hinterlist zu strafen. Vielleicht hatte Emma recht, und sie konnten sich wieder ins Freie wagen.
Während Agnes noch überlegte, ob sie das Versteck verlassen sollten, stieß Emma sie plötzlich aufgeregt in die Seite.
»Sieh nur! Diese Zeichen tauchen in dieser Reihenfolge immer wieder auf.«
Agnes folgte ihrem Blick. Emma hatte recht.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Nun, dass es ein Name ist, du Dummerchen!«
Agnes kniff ihre Augen zusammen. »Ich bin nicht dumm, nicht dümmer als du zumindest. Du kennst die Runen schließlich auch nicht.«
»Aber ich kenne jemanden, der sie vielleicht kennt«, rief Emma triumphierend.
Agnes war sofort bereit, der Freundin die Beleidigung zu verzeihen. Wer am Hof konnte bloß Runen lesen? Wer sie in das Geheimnis der Gräfin einweihen?
Immer noch war es undenkbar für sie, dass die Gräfin irgendeine Form der Magie betrieb, doch dass sie ein Geheimnis hütete und dieses gefährlich war, galt in jedem Fall als Beweis dafür, dass sie nicht so tugendhaft war, wie sie alle anderen vermuten ließ.
Emma barg die Schriftrolle an ihrer Brust. »Komm mit, ich weiß, wo wir sie antreffen werden.«
»Aber die Mönche …«
»Die Mönche werden es nicht wagen, die Tochter des todkranken Grafen zur Rede zu stellen. Lass mich nur machen.«
Agnes musste wohl oder übel eingestehen, dass es verführerisch war, der anderen die Führung zu überlassen und nicht selbst die schwierigen Entscheidungen zu treffen. Doch während sie Emma ins Freie folgte, sehnte sie sich insgeheim, ein wenig mehr Selbstbewusstsein und weniger Furcht zu haben, mehr Macht über die anderen Menschen als die Neigung, sich befehlenden Worten zu fügen, mehr Skrupellosigkeit auch als Scheu vor Verbotenem.
Nun, zumindest hatte sie nicht gezögert, die verbotenen Schriften an sich zu nehmen, auch wenn Emma diese mittlerweile trug – und an einen Ort brachte, den Agnes nicht erwartet hatte.
»Du willst in die Kapelle?«, rief sie, und erneut packte sie die Furcht vor Bruder Remi und Bruder Ouen.
Emma sagte nichts, nickte nur vielsagend und beschleunigte den Schritt.
VII.
965
Die Monate vergingen, Schnee fiel und wurde im Hof schmutzig grau, heftige Winde kämpften gegen graue Wolkentürme, die sich am blassen Himmel brauten, und erfüllten jeden Winkel mit ihrem eisigen Hauch. Gunnora zeigte es nicht, aber sie war unendlich dankbar, nicht im Wald leben zu müssen und zu frieren, sondern sich mit den anderen Frauen um den Kamin scharen zu können. Mit ihnen sprach sie wenig, mit Richard umso mehr.
Immer häufiger rief er sie zu sich, um das Mahl gemeinsam mit ihr einzunehmen. Seinen Fragen nach ihrer Herkunft wich sie beharrlich aus, aber sie sprach mit ihm über Politik und erklärte stets unumwunden ihre Sicht der Dinge.
Er hörte
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