Meisterin der Runen
Weisheit zu erlangen.«
Unwillkürlich musste Gunnora an den Tag ihrer Ankunft denken, als die Mutter ihr erklärt hatte, alles habe seinen Preis, auch das Wissen um die Runen. Sie wollte nicht zugeben, wie sehr es sie erschütterte, dass auch Richard diese schlichte Rechnung kannte, und kam aufs eigentliche Thema zurück.
»Ich habe gehört, dass in den ersten Jahren der Normandie viele Felder brachlagen, weil die Nordmänner so viele junge Männer entführten und versklavten«, sagte sie leise. »Ein Land, das so sehr unter der Sklaverei gelitten hat, sollte sich nicht am Handel mit Menschen bereichern.«
Richard nickte nachdenklich. »Das ist wahr, aber nicht alle Ziele sind gleichzeitig zu erreichen. Wenn wir Frieden hätten, könnte ich die Sklaverei verbieten lassen. So allerdings muss ich mir die Kaufleute geneigt stimmen. Sie bringen das Geld ein, das ich brauche, um Krieg zu führen.«
»Die Truppen aus Dänemark, um die du König Harald gebeten hast, sollen im Frühjahr kommen, nicht wahr?«
»So ist es, und ich weiß nicht, was ich ohne sie machen soll. Thibaud hetzt weiterhin gegen mich, und längst hat sich nicht nur Gottfried von Anjou zu seinem Verbündeten erklärt, sondern auch andere haben es: Arnulf von Flandern, König Lothar und Graf Rotrou von Le Perche. Sie bereiten einmal mehr die Invasion vor.«
»Aber die dänischen Truppen werden dir doch rechtzeitig beistehen?«
»Auf ihre Treue kann ich zählen – nicht jedoch auf die einiger Provinzen. Vor allem jene in der Nähe der Grenze, die am meisten einen Angriff fürchten, drohen mit Rebellion, vermag ich sie nicht zu schützen.«
Sie schwiegen lange. Gunnora musterte Richard verstohlen, erkannte plötzlich, wie müde er war und auch, wie viel ihm die wenigen Stunden mit ihr bedeuteten. Sie schenkten Zerstreuung, Erholung, neue Kraft. Mehrmals setzte sie zu reden an, wollte die Zusammenhänge noch besser ergründen, ihn beraten, gar trösten, doch schließlich brachte sie nur eine schlichte Frage über ihre Lippen.
»Warum liegt dir so viel an mir?«
Er sah sie erstaunt an, doch die Antwort kam unerwartet schnell. »Aus deiner Stimme hört man niemals Panik«, sagte er leise. »Alle hier am Hof sind um die Zukunft des Landes besorgt – du nicht. Die Normandie ist nicht deine Heimat, und deshalb hat ihre Zukunft keine Bedeutung für dich. An deiner Seite kann ich am besten vergessen, wer ich bin, und zugleich am offensten darüber reden.« Kurz hatte Richard ganz ernst gesprochen, doch am Ende lachte er auf. »Ich fürchte nur, bald muss ich auf deine Gesellschaft verzichten – und du auf meine. Sobald der Schnee schmilzt, werde ich Rouen verlassen, um die Grenzregionen zu sichern.«
Er zwinkerte ihr auf gewohnt spöttische Art zu, als gelte es, sein Bekenntnis Lügen zu strafen. Sie blieb dennoch bewegt. War ihr die Normandie tatsächlich gleichgültig? Würde sie erleichtert sein, wenn er fort war, oder sich nach ihm sehnen?
Ihr verräterischer Körper tat das gewiss, und als er sie zu sich zog, beschloss sie, seine Zärtlichkeiten auszukosten, solange sie ihr zuteilwurden.
Der Frühling kam, Richard ging, der Hof erwachte zum Leben, aber Gunnora zog sich immer mehr zurück. Die Frage nach ihrer Zukunft wurde drängender, auch, was sie insgeheim anstrebte und wie sie es am besten erreichte. Ihre kleinen Schwestern fühlten sich wohl, von Seinfreda hatte sie die Nachricht bekommen, dass es ihr gut gehe, und sie hatte ihr ihrerseits durch einen Boten ausrichten lassen, dass die Kleinen sich bei Hofe wohlfühlten und sie selbst ein passableres Leben führe als seinerzeit im Wald.
Dennoch wuchs ihre Rastlosigkeit. Nicht länger schenkten ihr die Aufgaben, die ihr Mathilda zugeteilt und die sie bis jetzt gewissenhaft erledigt hatte, die gewünschte Zerstreuung. Nun, da das Land grünte, sehnte sie sich manchmal nach dem erdigen Waldgeruch, dem Rascheln des Laubes, der rauen Rinde der Bäume. Und Gunnora tat, was sie lange nicht mehr getan hatte – sie ritzte Runen. Erst wahllos, dann eine bestimmte, die Rune Sowilo, die für Sieg und Erfolg stand.
Erst als sie sie betrachtete, erkannte sie, wie sehr sie sich wünschte, dass sie Richard zum Segen werden und er die feindliche Allianz besiegen möge. Verärgert darüber, dass ihr sein Wohl so wichtig war, warf sie das Stück Holz ins Feuer und sah zu, wie es verbrannte. Als nur mehr Asche übrig war und sie den Blick hob, stand eine junge Frau vor ihr und starrte sie an. Gunnora
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