Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
Auftrag?“ Melanies Kopf ruckte spontan nach rechts, wo ihre Kommilitonin saß. Rasch korrigierte sie das und richtete den Blick wieder nach vorne. Waldboden. Laub. Nadeln. Ameisen. Wimmelndes Leben. Die Ameisen kamen ihr so normal vor, so … gesund …
„Siehst du, Melanie, du leugnest deinen Auftrag. Verstehst du jetzt, warum ich vor den anderen nicht offen zugebe, was ich getan habe? Sie würden es nicht verstehen, könnten es nicht in einen Gesamtzusammenhang bringen.“ Melanie erkannte in den Augenwinkeln, dass auch Madoka auf den Boden vor sich starrte. Hatte sie ein irres Glitzern in den Augen? Oder anders gefragt: Hatte sie das nicht immer?
„Erinnerst du dich noch, wie ich die Bewohner von Falkengrund mit dem Cadavre Exquit verglichen habe?“, fuhr die Japanerin langsam fort. „Mit dem Spiel der existenzialistischen Philosophen? Satzteile, zufällig zusammengewürfelt, die keinen Sinn ergeben. Wenn ich gestehen würde, dir mit dem Tod gedroht zu haben, würde man mich wahrscheinlich hinauswerfen – eine spontane Reaktion dieser … schlichten Gemüter. Wenn sich vorher herausstellen würde, was du in Wirklichkeit bist, würden sie dich hinauswerfen. Überleg mal: Die Wahrheit hat nur dann eine Chance, wenn wir uns beide über das Große, das Gesamte im Klaren werden – the big picture , wie man im englischsprachigen Raum wohl sagt.“
Was faselte Madoka da eigentlich? Melanie wusste nichts von einem Auftrag. Sie hatte nie einen erhalten. Von wem auch? Die Asiatin musste tatsächlich den Verstand verloren haben. Was das für ihre Situation im Allgemeinen und ihre Überlebenschancen im Besonderen bedeutete, darüber wollte sie jetzt gar nicht nachdenken. Sie schluckte. „Ich muss eines der schlichten Gemüter sein, von denen du redest. Ich verstehe nämlich kein Wort.“
Madoka spannte sich. „Das, Melanie, ist eine Lüge! So können wir nicht aufeinander zugehen. Du bist anders als die anderen. Deine Tarnung ist aufgeflogen.“
Melanie ballte die Fäuste. „Wenn ich ohnehin lüge, verdammt, warum erzählst mir dann nicht einfach du, was du für die Wahrheit hältst?“
„Spiele“, sagte Madoka. „Ich mag keine Spiele.“
„Ach ja? Da haben wir ausnahmsweise einmal etwas gemeinsam“, stellte Melanie wütend fest.
Nachdem sie einige Minuten lang schweigend vor sich hin gestiert hatten, unterbrach die Japanerin die Stille. „Gut. Einverstanden. Dann eben auf diese Weise. Ich helfe deiner Erinnerung auf die Sprünge. Ich nehme an, du kennst meinen Vater, Dr. Fumio Andô …“
„Nie gehört“, erwiderte die Rothaarige. „Weiter.“
Madoka sah auf. „Du kennst meinen Bruder, Kazuo.“
„Tut mir leid, sagt mir nichts“, bemerkte Melanie knapp. Das war lächerlich! Wo und unter welchen Umständen sollte sie die Bekanntschaft von Madokas Familie gemacht haben? Lebte die nicht in Japan? Sie konnte sich nicht erinnern, in ihrem Leben überhaupt einen Landsmann Madokas näher kennen gelernt zu haben. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in Freudenstadt verbracht, und da lief man selten Asiaten über den Weg. Die Japaner waren für sie ein fernes Volk, das gute Autos und Stereoanlagen baute und sich ab und an in kleinen Grüppchen und mit Fotoapparaten bewaffnet nach Deutschland wagte. Freilich hatte dieses indifferente bis positive Japanbild sehr gelitten, seit sie Madoka kannte.
„Mein Vater und mein Bruder haben herausgefunden, dass ich mich auf Falkengrund aufhalte“, fuhr Madoka fort. „Und das, obwohl ich unter falschem Namen hier untergetaucht bin. Kazuo hat mir verraten, wie das möglich ist. Es gibt in der Schule eine undichte Stelle, einen Spion, von dem aus Informationen nach Japan fließen.“
Jetzt konnte Melanie nicht anders als die Studentin, die neben ihr auf dem Baumstamm saß, anzusehen. Auch Madoka wandte ihr das Gesicht zu. Ihr Ausdruck allerdings war unbestimmt, ernst zwar, aber erstaunlich leer. „Und dieser Spion soll ausgerechnet ich sein“, sagte die Rothaarige in diese offene Miene hinein. Unter anderen Umständen hätte sie sicher gelacht. Jetzt steckte das Lachen irgendwo in ihrer Brust fest, ganz weit unten, und traute sich nicht heraus.
„Du bist es, Melanie.“ Mehr sagte Madoka nicht. Wieder kehrte das Schweigen zurück. Es war merkwürdig. Madokas Worte machten ihr Angst, aber ihr Schweigen noch mehr.
„Warum sprichst du nicht weiter?“, maulte Melanie, als sie es nicht mehr ertragen konnte. Rote Flecken waren auf ihrem Gesucht
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