Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
blauem Jeansstoff gefertigt und würde kein Licht durchlassen. Erneut klang ein gedämpfter Laut aus dem Beton, sehr weit weg. Harald musste ungefähr in der Mitte angelangt sein. Es hörte sich an, als wäre er kilometerweit von ihnen entfernt.
„Karla“, begann Johannes und setzte sich auf die Röhre. Das Mädchen tat dasselbe auf ihrer Seite. „Ich muss dich etwas fragen, und du … darfst mir nicht böse sein. Es beschäftigt mich, und es ist meine allerletzte Chance, dich danach zu fragen. Wenn das Ritual beendet ist, wenn wir alle da durchgekrochen sind, dürfen wir nicht mehr davon sprechen, nicht wahr?“
Karla sah auf den Boden. „Ich kann mir sogar vorstellen, was es ist.“
„Ja, wahrscheinlich kannst du das. Es ist keine besonders originelle Frage.“ Johannes räusperte sich und wandte ebenfalls den Blick ab.
„Du möchtest wissen, ob ich damals wirklich vorhatte, mit Tim zu schlafen, hab ich recht? Es interessiert dich, ob ich mich ihm hingegeben hätte, falls er die Mutprobe überstanden hätte. Falls er nach einer Viertelstunde wieder aus dem Schrank herausgekommen wäre, ein bisschen verschwitzt vielleicht, aber ruhig und gefasst.“
Johannes sagte nichts. Er schien bereits zu bereuen, dass er gefragt hatte.
„Ich gebe dir eine Antwort, Jo, aber nur, wenn du mir vorher eine andere Frage beantwortest.“
Er sah auf, blickte zu ihr hinüber. Karlas Gesicht war gerötet, nicht vor Scham, wie er vermutete, sondern weil sie sich über ihn ärgerte. Über seine Indiskretion.
„Würdest du mich für eine größere Schlampe halten, wenn ich Tim ein Versprechen gegeben hätte, das ich nicht vorhatte einzuhalten – oder würdest du mich erst dann als ein Stück Dreck sehen, wenn ich mit einem Jungen geschlafen hätte, nur weil er eine dumme Mutprobe bestanden hat, nicht, weil ich ihn liebe?“
Johannes zuckte zusammen wie unter einem körperlichen Schlag.
„Wäre Harald Tim wirklich ein Freund gewesen, ein echter Freund, wenn er für ihn durch diese alberne Betonröhre gekrochen wäre? Glaubst du das? Ich glaube es nicht. Aber mir – mir war es ernst mit Tim. Ich habe ihn zwar nicht geliebt, aber ich hätte eine Nacht mit ihm verbracht. Jo, ich habe vielleicht einen großen Fehler gemacht, aber ich habe ihn nicht angelogen. Kann Harald das auch von sich sagen?“ Sie hatte sich in Rage geredet, ihre Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Sie stand auf und ging ein paar Schritte in den Wald hinein.
Johannes blieb sitzen, Kopf und Schultern gesenkt, grübelnd. Es wurde immer dunkler, ein Wind kam auf, die Bäume schaukelten hin und her.
Natürlich war es unfair gewesen, Karla diese Frage zu stellen. Karla, die es ohnehin nicht leicht gehabt hatte im Leben und die sehr gut wusste, dass das Interesse der meisten Männer an ihr nicht weit reichte, nur bis zu ihren außergewöhnlich großen und außergewöhnlich schön geformten …
Es war nicht leicht, ein Sexsymbol zu sein. Gab man sich abweisend, galt man als prüde. Spielte man mit und gab den Jungs, was sie wollten, war man im Handumdrehen als Flittchen verschrien. Dazu kam ihr tragischer familiärer Hintergrund. Karla hatte ihren Vater nicht gesehen, seit sie ein Kleinkind war. Er war krank, geisteskrank, litt unter Verfolgungswahn und zahllosen komplizierten Psychosen. Als sie ein Baby gewesen war, hatte er geglaubt, sie vor allen Leuten beschützen zu müssen, hatte sie abgeschottet und schließlich nicht einmal mehr ihre Mutter oder einen Arzt an sie rangelassen. Da hatte man den Vater in eine Anstalt stecken müssen. Einen Elternteil zu haben, der in der Klapsmühle saß, gehörte zu den schwersten Lasten, die ein Kind zu tragen haben konnte. Und sie schleppte sich noch heute an dieser Last ab. Ihre Mutter hatte ihr von Kindheit an verboten, ihren Vater zu besuchen, und obwohl sie mittlerweile bei ihrer Mutter ausgezogen war und kaum mehr Kontakte zu der hysterischen, gewalttätigen Frau pflegte, hatte sie bislang noch nicht die Courage gehabt, sich über das Verbot hinwegzusetzen.
Vielleicht war das auch der Grund, warum sie Tim ihre Liebe schenken wollte, ihre körperliche Liebe zumindest. Um an ihm, der ebenfalls psychische Probleme hatte, etwas gutzumachen, was sie an ihrem Vater nicht gutmachen konnte. Warum hatte sie ihn nur in den Schrank geschickt? Doch nicht, weil sie grausam zu ihm sein wollte. Nein, Johannes war sicher, dass sie es getan hatte, weil sie von ihm erwartete, dass er sie eroberte, dass er etwas
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