Meleons magische Schokoladen
beiden. Ich bin sicher, ich hab das Glöckchen gehört, Niklas. Du solltest nach vorne gehen. Und du verschwindest in deine Kammer, Zamera, wenn du dich hier nicht benehmen kannst! Du hast so viel Pralinen und Gebäck verschlungen, dass ich den ganzen Nachmittag durcharbeiten muss, wenn ich das wieder wettmachen will.“
Zamera senkte den Kopf und schielte von der Seite her zu Isabell, dann zu Niklas, trottete zur Hintertür und öffnete sich selbst die Heukiste.
„Pass auf die auf“, flüsterte Niklas. „Sie ist schon lange in den Herrn verliebt. Und er wollte nie etwas von ihr wissen.“
„Warum seid ihr auf einmal so garstig zueinander? Das hast du mir doch auch vorher nicht erzählt.“
„Da ging es ihr ja auch noch schlecht“, sagte Niklas und kehrte in den Laden zurück.
Je weiter die Adventszeit voranschritt, desto nervöser wurde Isabell. Meleon kam nicht und schickte auch keine Nachricht. Längst war eine Woche vorbei.
Viele Kunden warfen ihr merkwürdige Blicke zu, doch der Zustrom der Käufer ließ nicht nach. Sie hatte bereits fünf Gewinnlose gegen Pralinenkästen eingetauscht, das sechste und siebte Los hingegen waren noch nicht präsentiert worden.
Isabell war in diesen Tagen überwiegend damit beschäftigt, Pralinen zu machen und Gebäck herzustellen. Nun drohte ihr der Vorrat fertiger Schokoladenspäne auszugehen, mit denen ausnahmslos alle Rezepte aus dem Hause Meleon zubereitet wurden.
„Ich muss die Maschine in Gang bringen“, sagte sie zu Niklas. „Weißt du wirklich nichts darüber?“
Niklas schüttelte nur den Kopf.
Also beschäftigte sich Isabell jeden Tag etwa eine Stunde damit, die Konstruktion zu betrachten, vorsichtig jeden Hebel zu bewegen, das Schwungrad anzuschieben… Nichts geschah.
Eines Abends hantierte sie in Meleons Schlafstube mit dem Stövchen, auf dem er immer die Trinkschokolade zubereitete, da fiel ihr auf, dass unter dem Bett Kästen standen. Sie beugte sich vor und hob die bestickte Decke an, die bis fast zum Boden herab hing, fasste einen geschwärzten Metallring und zog den Kasten hervor. Als sie den Deckel aufklappte, stieß sie auf Kleider in Braun und Cremeweiß. Schnell schloss sie ihn wieder und stellte die Kiste zurück. Sie zog die benachbarte Kiste nach vorne. Als sie die Verschlüsse aufschnappen ließ, begannen sie zu leuchten. Isabell erschrak, da aber sonst nichts geschah, öffnete sie auch diesen Deckel. Der Kasten war bis auf zwei ledergebundene Bücher leer. Beide hatten ausgeprägte Eselsohren, trugen Flecken wie von Tinte und hohem Alter, und rochen nach… Schokolade. Behutsam nahm Isabell beide heraus.
Sie schlug das erste auf.
Es war unzweifelhaft ein Rezeptbuch, doch die Schrift sah fremdartig aus und die Texte waren wohl in Meleons Heimatsprache verfasst. Feine Federzeichnungen ließen immerhin erahnen, welche Schätze sich hier verbargen.
Bedauernd legte sie das Buch wieder zurück. Sie schlug das zweite auf und sofort wieder zu, denn ihr Blick war auf die nackte Gestalt eines Mannes gefallen. Nachdem sie ihren Schrecken überwunden hatte, öffnete sie es wieder. Die Seite zeigte nichts Furchteinflößenderes als ein Einhorn mit stolz erhobenem Kopf. Vorsichtig blätterte Isabell weiter. Über weite Strecken schien das Buch eine Art Naturkompendium zu sein und enthielt Zeichnungen von wundersam gedrehten Schnecken, Pflanzen, Eichhörnchen und sogar Tierfährten. Alles war in Meleons Schrift mit Kommentaren versehen. Vierzeiler und Sechszeiler mochten Gedichte oder vielleicht sogar Zaubersprüche sein. Dann kamen Aufzeichnungen, die Isabell mit wachsender Entrüstung, aber auch nicht ohne Faszination betrachtete: Frauen, manche nur halb enthüllt, andere vollkommen unbekleidet. Einige Skizzen zeigten Posen, die nun wirklich nicht mehr als unschuldige Studien der Anatomie durchgehen konnten. Was dann folgte, brachte Isabell dazu, sich umzusehen, ehe sie das Buch auf die Bettkante legte und sehr genau studierte, was Meleon da festgehalten hatte. Halb war sie froh, dass sie die beigefügten Kommentare nicht lesen konnte, halb ärgerte sie sich darüber.
Sie erschrak noch mehr, als sie sich plötzlich Meleons Konterfei gegenüber sah. Offensichtlich noch ein wenig jünger als jetzt, sah er ihr mit seinen dunklen Augen von der Seite entgegen.
Dann entstand plötzlich Schrift, als führe jemand eine unsichtbare Feder. Die Buchstaben leuchteten, während sie entstanden und verblassten schnell wieder.
Da ist aber jemand neugierig!
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