Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Meeres. Sehen konnte ich es von hier nicht. Weil es kühl war, zog ich meine Strickjacke fester um meinen Körper. Eine Weile lang gab ich mich ganz der frischen, salzhaltigen Luft und all den ungewohnten Geräuschen hin und genoss mein Alleinsein. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem, beobachtete seinen Rhythmus und versuchte, meinen wild umherhuschenden Gedanken keine Aufmerksamkeit mehr zu geben. So, wie ich es aus einem buddhistischen Ratgeber gelernt hatte. Für wenige Minuten konnte ich die Losgelöstheit von der Welt genießen, aber dann holte mich ein aufblitzender Gedanke an Hannah zurück in die Wirklichkeit einer Mutter, deren Sorgen bekanntermaßen nie enden. Sie war am vorletzten Wochenende wieder nach Hause zu Besuch gekommen. Das war kurz nachdem wir den Feng Shui Garten fertigbekommen hatten. Hannah war verändert gewesen, nicht so lebhaft und zufrieden wie sonst. Aber sie wollte wohl nicht darüber sprechen, sie wich uns aus, wenn wir sie nach der Arbeit in der Bank fragten. Was die Alpakas anging und meine Befürchtung, sie würde uns das übel nehmen, hatte ich mich gründlich geirrt. Hannah war begeistert von den Viechern. Nannte sie bald schon alle beim Namen: Daisy, Luna, Flöckchen, Arwen und, ihr erklärter Liebling, Galadriel. Der Name Galadriel war dermaßen unpassend für dieses liebenswerte Trampeltier von einem Alpaka, dass es komisch wirkte, wenn man es so beim Namen rief. Es war sanfter als ein Lamm und furchtbar tollpatschig. Trat einem immerzu auf die Füße, wenn man nicht aufpasste. Von Elbeneleganz keine Spur. Hannah verbrachte mit ihrer kleinen Schwester und den Tieren viel Zeit auf der Weide. Sie war sehr beeindruckt davon, dass Miri täglich vor der Schule den Tieren ihr Heu und Wasser brachte.
Wir alle hatten an diesem Wochenende eine gute Zeit miteinander gehabt. Aber das konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hannah einen Kummer in sich trug, und ihn vor uns verbarg. Was vor mir ebenfalls noch im Verborgenen lag, war Sebastians Rolle in Roberts Vergangenheit. Es hatte sich keine passende Gelegenheit ergeben, darüber zu sprechen. Ich war mir nicht sicher, ob Robert mir bewusst auswich. Jedes Mal, wenn ich das Gespräch in diese Richtung lenkte, kam er mit einem anderen Thema oder „musste dringend sofort etwas erledigen“. Langsam wurde mir kalt. Ich ließ die Gedanken und Erinnerungen ausklingen, erhob mich steifbeinig von der Bank und ging wieder rein, um meine Arbeit fortzusetzen. Morgen früh würde ich zurückfahren ins beschauliche Remstal. Hoffentlich passte auch alles, was ich mitnehmen wollte, in mein Auto. In zwei Stunden würde der junge Mann mitsamt einem kleinen Lkw kommen, den Onkel Walther mir als Hilfe versprochen hatte, um die Möbel zur Diakonie zu bringen. Bis dahin musste ich alle Schränke und Fächer geleert und gesäubert haben. Ich stopfte mir zwei Riegel Schokolade in den Mund und arbeitete weiter.
Am Abend war die Wohnung dann kahl und leer. Ich ging durch alle Räume und spürte in sie hinein. Es war noch ein wenig von Mutters Präsenz zu fühlen. Einem alten Ritual folgend, fegte ich die Räume gründlich aus und streute grobes Salz in jede Ecke eines jeden Raumes, zum Aufnehmen der alten, verbrauchten Energien. Die Nacht verbrachte ich auf der auf dem nackten Boden liegenden Matratze, die ich am Morgen an den Vorgartenzaun stellen würde, damit sie zum Sperrmüll gebracht werden konnte. Ich schlief diesmal ruhiger und träumte vom Lindenhaus und Thaddäus, der mir freundlich zuzwinkerte. Kurz vor Sonnenaufgang stand ich auf und griff mir erneut den Besen, fegte das Salz sorgfältig zusammen und vergrub es dann im Vorgarten. Ich verabschiedete mich vom Haus im Namen meiner Mutter und sprach einen Segen für den Nachmieter. Entlastet zog ich die Tür hinter mir zu, brachte Onkel Walther den Hausschlüssel und nahm mit ihm ein kräftiges Frühstück ein. Danach fuhr ich leichten Herzens heim.
Wenige Tage später begegnete ich zufällig auf dem Parkplatz des Supermarktes Herrn Reimann. Ich verstaute gerade meine Einkäufe im Kofferraum, als der Lehrer munter auf mich zukam.
„ Frau Winter, schön Sie zu sehen. Ich wollte sie längst gesprochen haben, aber immer kam mir etwas dazwischen.“
„ Oh, hat Miri wieder etwas angestellt?“
„ Keineswegs, im Gegenteil. Ich wollte Ihnen sagen, dass das Mädchen völlig ausgewechselt ist. Sagen Sie, bei welchem Psychologen waren Sie mit ihr? Der oder die hat hervorragende Arbeit
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