Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Robert zum Aufbruch, damit wir noch vor Mitternacht nach Hause kamen. Ein letztes Winken, dann stiegen wir in den Wagen und fuhren heim.
Es war seltsam, so ohne Miri im Haus. Viel zu still. Kein Geplapper, keine Webstuhlgeräusche, kein Gesang auf dem Dachboden beim Spinnen. Hannah war für ein paar Tage zu einer Freundin gezogen, um mal etwas Abstand von der Familie und dem Alltag zu haben, und Robert hatte viel Arbeit außer Haus, jetzt war Hochsaison für seine Branche. Er und Matthias arbeiteten hart an dem neuen Garten, der nach Feng Shui gestaltet werden sollte. Ein schwieriges Unterfangen dieses Mal, denn es gab dort viel Disharmonie. Das Haus war an der ungünstigsten Stelle des Grundstückes gebaut worden und der Garten hatte eine L-Form. Wir hatten lange darüber gegrübelt, wie man die Energien am vorteilhaftesten lenken konnte. Der Besitzer wollte sich außerdem partout nicht von dem Baum trennen, der viel zu dicht am Haus stand. Vom Bachlauf im Süden mal ganz zu schweigen… Nun ja, nicht mehr mein Problem. Ich hatte gemeinsam mit Hannah die Planungsarbeit gemacht, die Umsetzung lag jetzt bei Robert und dem Gesellen, der das Ganze immer abfällig als Peng Pfui bezeichnete.
Nachdem ich heute die Kotabsatzstellen der Alpakaresidenz gereinigt und meine Hausarbeit erledigt hatte, war ich immer noch energiegeladen. Seit ich die Blutdrucktabletten nahm, ging es mir deutlich besser. Ich hatte mich gut erholt im Laufe der Zeit. Mich drängte es, kreativ tätig zu werden. Viel zu lange schon hatte ich „nichts Schönes“ mehr gemacht. Da war es mir nur recht, dass mein Blick auf die kahle Wand im Wohnzimmer fiel, als ich meine Mittagspause in meinem geliebten Korbsessel machte. Der fehlende Indian Sacred Buckskin hatte eine helle, und vor allem leere Stelle hinterlassen. Kurzerhand setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr zum Baumarkt. Zurück kam ich mit drei Farben: Grün, Dunkelrot, Gold. Mir war ein wunderschönes, meditatives indisches Sprichwort in den Sinn gekommen. Ich pinselte mit Sorgfalt die Worte an die Wand: Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen. Ich trat von der Wand zurück, als der letzte Buchstabe gemalt war und betrachtete kritisch mein Werk. Es gefiel mir, aber irgendwie fehlte der letzte Schliff. Ob ich noch eine Umrahmung malen sollte? Während ich im Geiste diverse Rahmenformen ausprobierte, kam mir die Idee, auf den Dachboden zu steigen. Wenn mich nicht alles täuschte, müsste dort noch ein handgeschnitzter Holzbilderrahmen aus Miras Zeit liegen. Mit etwas Glück würde er genau über die Inschrift passen. Flugs kletterte ich die Dachbodenleiter hoch und öffnete die Bodenklappe. Ich warf einen anerkennenden Blick über die Spinnräder, die Wollvorräte und fertigen Knäuel. Miri hatte hier eine für sie bemerkenswerte Ordnung aufrechterhalten. Das Kind wurde wirklich erwachsen. Ich warf noch einen prüfenden Blick auf meine getrockneten Kräuterbüschel, die an den von Wand zu Wand gespannten Leinen hingen und ging zur Ecke mit Miras alten Möbeln und anderen Hinterlassenschaften. Irgendwo musste hier doch ein verschnörkelter Rahmen sein! Ah, hinter dem alten Küchenbüffet steckte ein großer Kartoffelsack. Ich griff beherzt durch das Spinnengewebe hindurch und zog ihn hervor. Ja, darin war das Gesuchte. Der Rahmen war gut erhalten, hatte das passende antike Flair. Wunderbar. Ich setzte mich auf die Holztruhe, um kurz auszuruhen und diese ganz besondere Ruhe auf dem Dachboden zu genießen. Durch die Dachluke fiel das Licht der Nachmittagssonne. Verträumt folgte ich mit den Augen dem Tanz des Staubes. Alle Anspannung fiel von mir ab, und ich genoss einfach den Moment. Als ich genug Kraft getankt hatte, meldete sich meine Neugier. Was war eigentlich in dieser Truhe? Vorsichtig lehnte ich den Rahmen an die Wand und öffnete gespannt den Deckel. Sie war fast leer, auf dem Boden der Truhe verteilt lagen mehrere dicke Notizbücher. Ich nahm das hübscheste, bunte heraus und fing an zu lesen. Mein Herzschlag beschleunigte sich leicht vor Freude. Da waren ja Miras Kräuterrezepte! Die Heilteemischungen, Backrezepte, Salbenrezepte – alles durcheinander notiert. Das musste ich unbedingt genauer studieren. Ich griff mir die anderen Bücher auch heraus und ging, schwer beladen, mit Bilderrahmen und Büchern zur Dachtreppe, war allerdings klug genug, um zwei Mal in die obere Hausetage hinabzusteigen.
Im Wohnzimmer angekommen,
Weitere Kostenlose Bücher