Melmoth der Wanderer
Steine aufzuheben. Dennoch nahm die Prozession ihren Fortgang, und jedermann sank auf die Knie nieder, sobald die hocherhobenen Kruzifixe von den Priestern vorbeigetragen wurden. Doch ging auch das dumpfe Gemurmel weiter, ging weiter und nahm zu, bis von allen Seiten die Worte ›Vatermord‹, ›Entweihung‹ und ›Opfer‹ widerhallten, sogar von den Lippen jener, die angesichts des Heiligen Kreuzes im Staube knieten. Dies ständig anschwellende Grollen konnte nun wirklich nicht länger für das Murmeln von Betern gehalten werden. Die vorderste Reihe der Priester hielt denn auch unter nur schlecht bemeistertem Entsetzen inne – und dies Innehalten schien das auslösende Zeichen für die Schreckensszenen zu sein, welche sich nur zu bald ereignen sollten.
Zu diesem Zeitpunkt wagte es ein Offizier der Bedeckung, den Großinquisitor auf die vielleicht noch zu bändigende Gefahr hinzuweisen, wurde indes nur kurz und in schroffem Ton abgewiesen: ›Vorwärts – die Diener Christi haben nichts zu fürchten!‹ Die Prozession wollte sich wieder in Bewegung setzen, doch jedes weitere Vorwärtskommen wurde durch die Menge unmöglich gemacht, welche nun zu irgendwelchem tödlichen Vorhaben entschlossen schien. Schon wurden da und dort Steine geworfen. Doch in dem Augenblick, da die Priester ihre Kreuze erhoben, lag die Menge erneut auf den Knien, ließ aber die aufgehobenen Steine nicht mehr fallen. Abermals wandten die Offiziere der militärischen Bedeckung sich an den Großinquisitor, auf daß dieser die Erlaubnis erteilte, die Menge zu zerstreuen. Und abermals erhielten sie die nämliche, schroffe und uneinsichtige Antwort: ›Das Heilige Kreuz schützt seine Diener zur Genüge – welche Befürchtungen Ihr immer hegen mögt, sie sind mir fremd.‹
Wutentbrannt über diese Antwort schwang ein junger Offizier sich in den Sattel, den er aus Respekt vor dem geistlichen Oberen verlassen hatte, und ward im Moment von einem geworfenen Steine niedergemäht, welcher ihm den Schädel zertrümmerte. Noch ein letzter, blutüberströmter Blick auf den Großinquisitor, und der Getroffene verschied. Die Menge brüllte auf und schob sich näher. Ihre Absicht lag nun klar auf der Hand. Sie keilte jenen Teil der Prozession ein, darin sich ihr Opfer befand. Abermals und eindringlich erbaten die Offiziere die Erlaubnis, die Menge auseinandertreiben, zumindest aber, dem Stein des Anstoßes dessen Rückzug in irgendein benachbartes Gotteshaus decken zu dürfen, ja sogar bis zu den Mauern des Heiligen Inquisition. Und der erbärmliche Wicht vereinte angesichts der sich rings um ihn verdichtenden Gefahr sein Jammergeschrei mit den Vorstellungen der Offiziere. Doch der Obere, obschon totenbleich, gab nicht ein Jota seines Stolzes auf und rief, indem er auf das Kruzifix wies, lediglich aus: ›Dies hier sind meine Waffen, und ihre Inschrift lautet: In diesem Zeichen wirst du siegen. Ich verbiete, daß auch nur ein einziger Degen gezückt, auch nur eine einzige Muskete angelegt werde! Vorwärts denn, im Namen Gottes!‹ Und abermals wollte der Zug sich in Bewegung setzen, doch die Herandrängenden hatten es ihm unmöglich gemacht.
Unter dem Geheul, das von tausend Tigern zu kommen schien, wurde das Opfer ergriffen und hinweggezerrt, während es noch in ohnmächtiger Verzweiflung und mit emporgereckten Fäusten die Gewandfetzen derer umkrampfte, an die es sich in letzter Vergeblichkeit geklammert hatte.
Da die Menge das Opfer nun in ihren Krallen wußte, ließ sie für Sekunden von ihrem Wutgebrüll ab und starrte mit durstigen Augen auf den Gefangenen. Doch alsbald erhob sich das Geheul wieder, und das blutige Werk nahm seinen Anfang. Sie stießen ihn zu Boden –, zerrten ihn wieder hoch –, schleuderten ihn in die Luft –, und warfen sich ihn über den Köpfen weiter zu, als durchbohrte ein rasender Bulle einen heulenden Bluthund von sämtlichen Seiten. Blutüberströmt, entstellt, über und über mit Kot beschmiert und von Steinwürfen zerschlagen, so strampelte und heulte das Opfer inmitten der Menge, bis ein lauter Kommandoruf ertönte und der Hoffnung Raum gab, daß dieser alle Menschlichkeit und alle Gesittung mit Füßen tretenden Szene doch noch ein Ende gesetzt würde. Die erheblich verstärkten Soldaten kamen nämlich jetzt herangesprengt, gefolgt von der Geistlichkeit mit ihren zerfetzten Kutten und zerbrochenen Kruzifixen – alle voller Eifer, dem Menschentum beizustehen, und darauf brennend, diese niederträchtige,
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