Melmoth der Wanderer
barbarische Schande, welche da dem Christentum und der Menschlichkeit angetan wurde, im letzten Moment zu verhindern.
Doch ach! Solche Intervention beschleunigte nur die entsetzliche Katastrophe! Nun war ja der Menge noch weniger Zeit gelassen, ihre rasende Wut zu stillen. Und obwohl ich diese ganze Schreckensszene mit eigenen Augen in mich aufnahm, sie buchstäblich am eigenen Leibe miterlebte, vermag ich ihre letzten Momente doch nicht zu schildern. Als ein von Straßenkot und Steinwürfen über und über besudelter Fleischklumpen ward das Opfer gegen die Tür jenes Hauses geschmettert, darin ich Unterschlupf gefunden hatte. Die Zunge hing ihm aus dem zerrissenen Maul wie einem zu Tode gehetzten Stier – aus seiner Höhle gerissen, baumelte ihm das eine seiner Augen an der blutigen Wange – kein Knochen im Leibe war ihm heilgeblieben – seine Haut war eine einzige, blutende Wunde, – und noch immer heulte der Elende um sein Leben, noch immer winselte er um Gnade, so lange, bis ein heransausender Stein, von mitleidiger Hand geworfen, den Todgeweihten vollends niederstreckte.
Es ist wahr, Senor, daß, während ich dieser entsetzlichen Exekution als ein Augenzeuge beiwohnte, ich all die so leichthin beschriebenen Effekte bis zur Faszination an mir selbst empfand. Schon bei den ersten Anzeichen einer Bewegung – bei jenem dumpfunterdrückten Gemurmel, welches sich in der Menge erhob – war ich unwillentlich erschaudert. Als aber zuletzt dieser formlose, menschliche Kadaver gegen das Haustor geschmettert wurde, stimmte ich aus irgendeinem wilden Antrieb in das rasende Geheul der Menge mit ein – faltete sekundenlang die Hände –, und wiederholte dann das Geschrei jenes Bündels Mensch, das nicht länger zu leben schien, aber noch immer seine Schreie ausstieß. Und so heulte auch ich um mein Leben, so winselte auch ich um Gnade! Ein Gesicht wandte sich mir zu, wie ich da in so unbewußten Tönen kreischte, doch wurde jener Blick, welcher mich sekundenlang fixierte, schon im nächsten Moment wieder von mir gewendet und übte, so wohlbekannt mir sein Aufblitzen auch war, keinen weiteren Eindruck auf mich. Mein Verhalten war ein so rein automatenhaftes, daß ich, ohne mir der Gefahr, in welcher ich schwebte, überhaupt bewußt zu werden (und sie wäre im Falle meiner Entdeckung kaum geringer gewesen denn. jene, darin sich dies Opfer dort unten befand), weiterhin einen kreischenden Schrei um den anderen ausstieß –, wobei ich eine Welt dafür hingegeben hätte, mich von dem Fenster losreißen zu können, und dennoch fühlte, daß jeder neue Schrei mich wie mit Nägeln nur noch fester an dasselbe heftete.
Der Jude hatte sich von dem nächtlichen Tumult ferngehalten. Er hatte wohl, so vermute ich, mit den Worten Eures bewundernswerten Poeten bei sich gesprochen: ›Oh, Vater Abraham, über diese Christen!‹ Da er aber zu später Stunde ins Haus zurückkehrte, wurde er beim Anblick des Zustandes, in welchem ich mich befand, vom Entsetzen ergriffen. Ich lag nämlich im Fieberwahn – ich tobte –, und jedes Wort, das er sagte, mich zu besänftigen, war in den Wind gesprochen.
Schon zu früher Stunde verließ er am folgenden Abend das Haus, kehrte erst spät zurück, begab sich sofort in meine Kammer und zeigte sich hochbeglückt, mich wieder bei Vernunft und in völliger Fassung vorzufinden. Man stellte einige Wachslichte auf den Tisch, die Tür wurde verschlossen, und schließlich setzte sich der Jude, nachdem er mehrmals unter allen Anzeichen des Unbehagens die enge Kammer durchmessen, wobei er sich immer wieder räusperte, zu mir und machte sich daran, mir die Ursache seiner Beunruhigung anzuvertrauen, während ich, mit dem fatalen Vorgefühl des Unglücklichen, schon im Innersten wußte, daß auch mir ein gerüttelt Maß daran zukam. Mein Gegenüber eröffnete mir, daß, obschon zunächst das in ganz Madrid so allgemein für wahr angesehene Gerücht von meinem Tod ihm seinen Seelenfrieden zurückgegeben hätte, jetzt eine abenteuerliche Geschichte in Umlauf gekommen sei, die bei all ihrer Unglaubwürdigkeit und Absurdität dennoch die schrecklichsten Konsequenzen für uns nach sich ziehen könnte. Und er frug mich, ob es denn die Möglichkeit wäre, daß ich so unbedacht gewesen sei, mich an dem Abend jener schrecklichen Exekution den Blicken der Menge auszusetzen? Da ich ihm aber eingestand, daß ich mich am Fenster verweilt und unwillentlich Entsetzensschreie ausgestoßen hätte, welche, wie ich
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