Melmoth der Wanderer
Frage stellte, was ich denn zu tun vorhätte und wohin ich mich zu wenden gedächte. Diese Frage öffnete mir erstmals den Blick für die ganze Weite jener hoffnungslosen und unabsehbaren Verzweiflung, die da vor mir lag: die Inquisition hatte aus meinem ganzen ferneren Lebenswege eine einzige verwüstete Ödnis gemacht, als hätte dort jemand mit Feuer und Schwert gehaust. Kein Ort war mir gelassen, an welchem ich bleiben, mir mein Essen verdienen, eine Hand ergreifen, einen Menschen begrüßen und unter einem Dach hätte unterkriechen können. Und das galt für das ganze Spanische Königreich.
Ich war von aller Welt verstoßen, und vergoß so bittere wie verzweifelte Tränen im Angesicht der hoffnungslosen Ödnis jener Wüste, welche zu durchmessen mir nun bevorstand.
Der Jude, den meine Empfindungen nicht im geringsten störten, ging täglich auf Kundschaft aus. Eines Abends kehrte er in solch einem Taumel des Entzückens zurück, daß ich leichtlich erkennen konnte, er habe sich nunmehr, wenn schon nicht der meinen, so doch zumindest der eigenen Sicherheit vergewissert. Er brachte mir die Kunde, es sei das Stadtgespräch von Madrid, daß ich in der Nacht jener Feuersbrunst unter den Trümmern des einstürzenden Mauerwerks zugrunde gegangen sei. In der Mitteilsamkeit seines Überschwanges, der, wenn schon nicht die Gastlichkeit, so doch das Herz des Jüden geweitet, eröffnete mir derselbe überdies, daß den nämlichen Abend eine Bittprozession stattfinden solle, und zwar die größte und feierlichste, welche Madrid seit seiner Gründung gesehen habe. Die Prozession solle im Angesicht der gesamten Bevölkerung Madrids ihren Weg zu der Stadtpfarrkirche nehmen, um sich dort wegen der kürzlichen Kalamitäten zu demütigen und die Heiligen anzuflehen, sie mögen bei der Abwendung künftiger Feuersbrünste doch etwas aktiver hervortreten.
Mit dem Hereinbrechen des Abends ließ der Jude mich allein. Ich aber, unter einem ebenso unerklärlichen wie unwiderstehlichen Eindruck, stieg bis zu dem höchstgelegenen Gemach seines Hauses hinauf und horchte dort mit pochendem Herzen auf das Läuten der Glocken, welche den Beginn der feierlichen Zeremonie verkünden sollten. Ich mußte nicht lange warten. Bei Anbruch der Dämmerung begann jeder Kirchturm der Stadt von dem Dröhnen der eifrig geläuteten Glocken zu vibrieren. Die Fenster meines jüdischen Gastgebers öffneten sich nämlich auf einen freien Platz, den die Prozession überqueren mußte, und der bereits von einer solchen Menschenmenge überquoll, daß ich mich fragte, wie denn der Zug sich seinen Weg bahnen sollte. Schon zeigte sich die Spitze des Prozessionszuges. Ich konnte diesen nur an den Kruzifixen, den Kirchenfahnen und den brennenden, hochgehaltenen Wachsstöcken erkennen. Dann ergoß sich die Prozession wie ein mächtiger Strom, welcher gesäumt war von dem Gedränge der Menschen, die sich in so strengem und geregeltem Abstand hielten, als wären sie aus Stein gefügte Ufermauern, während all die Fahnen, Kruzifixe und Wachslichte wie die Schaumkämme heranrollender Wogen auf und nieder brandeten. Mit einem Mal aber schien sich ein Aufruhr unter der Menge zu erheben – ich aber wußte nicht, was ihn verursacht haben mochte, weil doch bis zu diesem Moment alles so angetan und hochgemut gewesen war.
Ich öffnete das Fenster und erblickte im Schein der Fackeln inmitten eines Rudels von Offizialen, welche sich um das Banner des Heiligen Dominikus geschart hatten, die Gestalt meines ehemaligen Begleiters, dessen Geschichte ja stadtbekannt war. Zunächst hatte sich bloß ein schwaches Getuschel erhoben, das aber nach und nach zu einem erbitterten, unterdrückten Grollen anschwoll. Über das Grollen aber erhoben sich einzelne, unterscheidbare Ausrufe, welche beständig die Worte wiederholten: ›Was soll das heißen? Und da fragen sie noch, warum die halbe Inquisition in Schutt und Asche gesunken ist? Warum die Heilige Jungfrau ihren Schutz verweigert hat? Warum die Heiligen sich alle abgewendet haben? Wo doch ein Vatermörder unter den Offizialen der Heiligen Inquisition einherwandelt? Seit wann sind die Hände, welche dem Vater die Gurgel durchgeschnitten haben, würdig, das Banner des Heiligen Kreuzes zu tragen?‹ Solches, zunächst nur von wenigen geäußert, sprang wie ein Lauffeuer auf die Menge über. Schon blitzte es von angriffslustigen Blicken, schon wurden Hände geballt und Fäuste geschüttelt, schon senkten sich andere zu Boden, um
Weitere Kostenlose Bücher