Melmoth der Wanderer
unverständlich blieb. ›So lebst du ganz allein hier‹, fragte er, ›und hast durch all die Jahre hier gelebt, ganz ohne einen menschlichen Gespielen?‹
›O nein‹, sagte Immalee. ›Ich habe einen, der viel schöner ist als all die Blumen auf meinem Eiland. Da ist keine Rose, deren Blütenblatt das Wasser des Flusses mit so holder Röte färbte denn die Wange meines Gespielen dies tut. Und obschon er unter dem Wasser haust, erstrahlen seine Farben in der schönsten Pracht. Bisweilen küßt er mich auch, allein, seine Lippen sind überaus kalt. Wenn aber ich ihn küsse, scheint mir sein Bild vor den Augen zu tanzen, und all seine Schönheit zerbricht zu tausend Gesichtern, welche mir wie kleine Sterne zulächeln. Doch obschon mein Gespiele mit tausend Gesichtern begabt ist, ich aber bloß ein einziges mein eigen nenne, so ist da noch ein weiteres Ding, das mir Sorge bereitet. Denn sein Bild erscheint mir nur in einem einzigen Wasserlauf dieses Eilands, und auch in ihm nur an jener Stelle, wo keine Bäume dies Gewässer überschatten. Auch kann ich es nur erhaschen, wenn die Sonne am Himmel steht. Und kauere ich dann auf meinen Knien, um es zu küssen, so ist mein Gespiele zu solcher Größe gewachsen, daß ich bisweilen wünschen möchte, er wäre kleiner. Seine Lippen sind dann so viel breiter als die meinen, daß ich dieselben wohl tausendmal küsse für den einen Kuß, welchen ich von ihnen empfange.‹
›Ist’s denn ein Jüngling, oder ist’s ein Mädchen?‹
›Was ist das?‹ antwortete Immalee auf solche Frage. ›Ich frug nach dem Geschlecht – ist’s männlich? – weiblich?‹ Doch auf diese Frage vermochte der Fremde keine befriedigende Antwort zu erhalten, und es sollte bis zum nächsten Tag, bis zu seinem zweiten Besuch auf dieser Insel dauern, daß er in Immalees Gespielen das erkannte, was er vermutet hatte. Er traf nämlich dies arglos-liebliche Wesen an, wie es eben über das Wasser ihres Flusses gebeugt war, wobei sie über ihrem Spiegelbild liebevoll, entzückt, ja ungestüm posierte. Eine Zeitlang sah ihr der Fremdling bei solcher Beschäftigung zu, wobei Gedankengänge, denen wohl kein Sterblicher zu folgen vermocht hätte, des Beobachters Antlitz mit dem wechselvollsten Mienenspiel überschatteten. Und dies arglose Kind der Natur war denn auch das erste aller erkorenen Opfer, welches er mit einem Gefühl des Bedauerns betrachtete, und das offenkundige Entzücken, mit welchem Immalee ihn nunmehr empfing, senkte beinahe etwas wie menschliches Fühlen in ein Herz, welches sich derlei Empfindungen seit langer Zeit verschlossen hatte. Einen Atemzug lang war es unserm Fremdling zumute wie seinem Herrn und Meister bei dessen Besuch im Paradies, und er konnte das Mitleid verstehen, das jener beim Anblick all der Blütenpracht empfunden hatte, die auf ewige Zeiten zu verderben er gekommen war. Mit solchen Gefühlen blickte er auf das ihn mit gebreiteten Armen und leuchtenden Augen um wirbelnde Geschöpf und mußte aufseufzen beim Anhören all der stürmischen Süße einer Begrüßung, wie sie nur von einem Wesen kommen konnte, welches bislang bloß mit dem Ruf der Vögel und dem Murmeln der Wasser Zwiesprache gepflogen.
Doch trotz all ihrer Unwissenheit konnte das Mädchen nicht umhin, einige Überraschung über des Fremdlings Ankunft zu bekunden, weil er ja dieses Eiland ohne die Hilfe irgendwelcher sichtbaren Beförderungsmittel erreicht hatte. Er aber vermied es, ihr in diesem Punkt Rede und Antwort zu stehen und sagte bloß: ›Ich sagte ja, ich bin aus einer Welt, die nicht allein von unbeseelten Blumen und nicht von Vögeln bloß, die gar nichts denken, bewohnt ist wie die deine: meine Welt ist eine Welt des Denkens und der Sprache.‹
Für eine geraume Weile vermochte Immalee sich vor Verwunderung und Entzücken kaum zu fassen. Schließlich aber rief sie aus: ›Oh – wie muß da ein jedes das andere lieben! Liebe doch auch ich meine armen Vögel und Blumen, meine Bäume, die mir Schatten spenden und das Wasser, welches mir sein Lied singt!‹
Der Fremde lächelte. ›Und dennoch‹, sprach er, ›gibt es in meiner wohl kein zweites Wesen, das schön und arglos wäre so wie du. Es ist die Welt des Leids, der Schuld, der Sorge.‹
Nur unter großen Schwierigkeiten konnte dem Mädchen die Bedeutung dieser Worte verständlich gemacht werden. Als sie aber begriffen hatte, rief sie aus: ›Oh, daß ich doch in jener Welt leben dürfte! Wie glücklich wollte ich dann alle Menschen
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