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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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möchte doch alles auf einmal sehen‹, erwiderte Immalee mit der natürlichen Begierde des brachliegenden, dürstenden Geistes, der glaubt, er könne, indem er alles verschlingt, auch alles verdauen.
    ›Was soll das heißen: ›Alles‹ und ›auf einmal‹!‹ so sprach begütigend ihr Unterweiser und lächelte der Schönen freundlich zu; wie sie hinter ihm den Hang hinaufsprang, zog er einen röhrenförmigen Gegenstand aus seiner Busentasche und hieß das Mädchen, denselben ans Auge zu setzen. Sie folgte seinen Worten, doch nachdem sie einen Augenblick lang hindurchgeblickt hatte, rief sie in der höchsten Erregung aus: ›Jetzt bin ich dort – oder sind jene da drüben hier?‹
    Sie richtete das Teleskop – denn kein anderes war es –, erneut in die Ferne, jedoch diesmal nach der falschen Richtung, so daß ihr bloß der Anblick des leeren Meeres zuteil wurde. Bekümmert rief sie aus: ›Dahin! – Fort und dahin! Oh, wunderbare Welt, noch kaum erwacht, und schon gestorben! So stirbt mir alles, was ich liebe, – meine liebsten Rosen, sie leben nicht halb so lange wie jene, die mir gleichgültig sind! Auch du bist ja sieben Mondaufgänge fortgewesen, und jene wunderbare Welt hat gar nur einen Augenblick gedauert!‹
    Der Fremde richtete das Fernrohr abermals auf die nahe gelegene indische Küste, und Immalee entzückte sich aufs neue, und sie rief: ›Nun lebt sie wieder, und ist noch schöner geworden! Und alles, was dort drüben lebt, es denkt! – Jeder Schritt ein Gedanke! Nicht stumme Fische, nicht empfindungslose Bäume, nein, herrliche Felsen [14] , auf die jene Wesen mit solchem Stolz blicken, als war es das Werk ihrer eigenen Hände! Wirklich, und wie schön ihr Felsen seid! Wie schön sind doch eure geraden, geglätteten Flanken! Wie reich und blumenhaft eure geschmückten Gipfel! Oh, daß doch echte Blumen auf euch wüchsen, lebendige Vögel euch umflatterten, – so wollte ich euch noch mehr lieben als jene andern Felsen, in deren Schutz ich die Sonne hinscheiden sehe! Welch eine Welt muß das sein, darin nichts natürlich ist, und alles schön! So muß das alles vom Denken kommen. Doch wie klein all die Dinge doch sind! Das Denken hätte sie größer machen sollen – das Denken müßte ein Gott sein! Vielleicht aber‹, so fügte sie, mit raschem Verstand sich selbst mißtrauend, hinzu, ›vielleicht bin ich im Irrtum. So manchesmal habe ich ja geglaubt, ich könnte meine Hand einer fernen Palme aufs Haupt legen – doch wenn ich sie dann nach langer, langer Zeit erreicht hatte, so hätte ich ihr unterstes Blatt nicht berühren können, und wäre ich gleich zehnmal so groß gewesen als ich bin. Und so mag es sein, daß auch deine wundersame Welt zu wachsen begänne, sobald ich mich ihr näherte.‹
    ›Halt ein‹, sagte da der Fremde, indem er ihr das Fernrohr aus der Hand nahm. ›Um dich dieses Anblicks zu erfreuen, sollst du ihn auch verstehen.‹
    ›O ja‹, antwortete das Mädchen voll gehorsamen Eifers, da ja in ihrer Einbildungskraft die alte Welt der Sinne so plötzlich an Boden verlor gegen diese neubegründete Welt des Geistes. ›O ja, laß mich also denken.‹
    ›So sag mir, Immalee, wie hältst du’s mit der Religion?‹ frug jetzt der fremde Gast, wobei ein unbeschreibliches Gefühl der Pein die bleiche Stirn ihm fahler färbte.
    ›Religion? Was ist das – etwa ein neuer Gedanke?‹
    ›Es ist dies das Wissen um ein Wesen, das über sämtliche Welten und deren Bewohner gebietet, weil es der Schöpfer allen Lebens ist und dereinst auch dessen Richter sein wird, – um ein Wesen, welches wir nicht sehen können, an dessen Macht und unsichtbare Allgegenwärtigkeit wir aber glauben müssen, so allbewegend, doch nimmerbewegt, so alles vernehmend, doch nimmer vernehmbar wie sie ist.‹ Verwirrt unterbrech Immalee den Sprecher: ›Halt ein! – Zu vieles Denken brächte mir den Tod, so gönn’ mir eine Pause. Denn ich habe den Regen, der da gekommen, die Rose zu erfrischen, dieselbe schon zu Boden schlagen sehen.‹ Und nach angestrengter geistiger Sammlung fügte sie hinzu: ›Mir ist, als hätte die Stimme des Traums mir einstmals, noch lange bevor ich zur Welt gekommen bin, dergleichen schon zugeraunt. Doch das war vor langer Zeit. Seither ist es mir manchesmal, als wohnten Gedanken in mir, die jener Traumesstimme gleichen. So habe ich gedacht, ich liebte die Dinge, welche mich hier umgeben, vielleicht allzusehr, und sollte besser Dinge lieben, die über mir stünden, –

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