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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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ein Produkt ihrer Heimat zum Geschenk darbrachten.
    Am Abend des zweiten Tages nach dem Besuch der Inder stand Immalee – das ist der Name, den ihr die Bittsteller gegeben – am Strand, als ein Wesen sich ihr näherte, wie sie es ähnlich noch nie zuvor erblickt hatte. Die Farbe seines Gesichtes und seiner Hände ähnelte ihrer eigenen mehr denn jener, die sie zu sehen gewohnt war, doch seine Kleidung (sie war von europäischem Zuschnitt) erweckte in dem Mädchen ob der vierschrötigen Ungeschlachtheit, der Formlosigkeit und der entstellenden Ausladung rund um die Hüften (wie sie die à-la-mode-Kavaliere des Jahres 1680 trugen) ein aus Lachlust, Abscheu und Verwunderung gemischtes Gefühl, welches indes ihre bezaubernden Züge bloß durch ein Lächeln auszudrücken vermochten – durch dies ihrem Antlitz eingeborene Lächeln, welches sogar der verwunderten Überraschung solchen Moments standhielt.
    Der Fremde kam näher, und so tat es auch unser bezauberndes Wesen, obschon freilich nicht nach der Art, wie dies die Frauen Europas tun, nicht also unter tiefen und anmutigen Verneigungen, und noch weniger nach der Art eines indischen Mädchens mit all den unterwürfigen Salams. Vielmehr verhielt sie sich ähnlich wie ein Rehkitz, welches ja Munterkeit, Scheu, Zutraulichkeit und Furcht nahezu gleichzeitig und in ein und derselben Bewegung auszudrücken vermag.
    Jetzt trat der Fremde herzu und wandte sich zu Immalees größter Verwunderung in jener Sprache an sie, von welcher sie sich aus der Kindheit nur noch einige wenige Worte bewahrt und mit viel vergeblicher Mühe ihre Pfauen, Papageien und Loxia- Vögel zu lehren versucht hatte, damit diese ihr in der nämlichen Zunge antworteten. Nun war aber der Vorrat ihrer Worte aus Mangel an Übung zu einem so begrenzten zusammengeschmolzen, daß sie mit wahrem Entzücken auch noch den unbedeutendsten Redensarten von den Lippen eines andern lauschte, wenn sie nur in der ihr vertrauten Zunge ertönten. Und da der Fremde sie nach den damals herrschenden Sitten mit den Worten ansprach: ›Wie, schönste Jungfrau, so allein? Was macht Ihr hier?‹, so antwortete sie in Wiederholung dessen, was der christliche Katechismus einstmals ihren kindlichen Lippen eingegeben: ›Der liebe Gott allein hat mich gemacht.‹
    ›Nie machte er ein schöneres Geschöpf, sprach da der Fremde, haschte ihre Hand und heftete begierig seinen Blick auf sie, mit Augen, wie sie auch noch heute im Antlitz dieses Erzbetrügers brennen.
    ›O ja‹, antwortete Immalee. ›Viele schönere Dinge hat er gemacht. Die Rose, sie ist röter als mein Mund – der Palmenbaum höher als mein Wuchs –, und die Woge ist blauer als meine Augen. Doch sie alle wandeln sich, nur ich selbst wandle mich nicht. Ich bin größer und stärker geworden, wogegen die Rose mit jedem sechsten Mond dahinwelkt. Noch der Felsen öffnet sich ja den Fledermäusen, sobald erst die Erde erzittert. Die Wogen aber wühlen sich auf in ihrer Wut, bis sie grau sind und nicht mehr von jener herrlichen Farbe, die sie annehmen, wenn der Mond auf ihnen tanzt und all sein lichtes Gezweig aussendet, mir die Füße zu küssen, wie ich da im weichen Sand stehe. Nacht für Nacht habe ich versucht, dies Gezweig aufzusammeln, doch zerbrach es mir in der Hand, sobald ich die Finger ins Wasser getaucht.‹
    ›Und ist es dir mit den Sternen besser ergangen?‹ fragte lächelnd der Fremde.
    ›Ach nein‹, antwortete das unschuldvolle Wesen. ›Die Sterne sind ja die Blumen des Himmels, die Strahlen des Mondes aber sein Geäst und sein Gezweig. Doch obschon sie so leuchtend sind, erblühen sie doch nur zur Nacht, – und so liebe ich jene Blumen mehr, die ich pflücken und mir ins Haar stecken kann. Habe ich aber die ganze Nacht hindurch einem Stern gerufen, und ist er meinem Rufen gefolgt und von seinem Himmel herabgehüpft wie ein Pfauenvogel, der aus seinem Nest springt, so hat er hinterher mit mir Verstecken gespielt in den Mangobäumen und den Tamarinden, in die er sich fallen ließ. Und obgleich ich nach ihm gesucht habe, bis der Mond schon ganz stumpf und müde auf mich herniedergeblickt, konnte ich meinen Stern doch nimmer finden. Von woher aber kommst du ? Du bist nicht schuppig noch stumm wie jene, die in den Wassern wachsen und mir ihre seltsamen Formen weisen, wenn ich bei Sonnenuntergang am Ufer sitze. Noch auch bist du von rötlicher Hautfarbe und kleinem Wuchs wie die, welche aus den Welten jenseits des Wassers zu mir kommen, in Häusern,

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