Melmoth der Wanderer
welche über die Tiefe schweben und sich mit ihren langen, in die Flut getauchten Beinen so rasch dahinbewegen. Von woher also kommst du?
›Mein schönes Kind‹, erwiderte der Fremde, ›ich komm’ aus einer andern Welt, wo’s Tausende von meinesgleichen gibt.‹
›Das kann nicht möglich sein‹, sagte Immalee, ›weil ich hier doch ganz allein lebe, und die anderen Welten meiner wohl gleichen müssen.‹
›Und dennoch ist es wahr‹, so sprach der Fremde.
Eine Zeitlang verharrte Immalee in Schweigen, als versuchte sie erstmals im Leben über etwas nachzudenken – eine Übung, welche peinvoll genug sein mochte für den, dessen Dasein bislang nur aus natürlichem Handeln und von allem Denken unbeschwerten Antrieben bestanden hatte. Schließlich rief sie aus: ›So müssen wir beide wohl aus der Welt der Stimmen erwachsen sein, weil ich doch deine Worte besser verstehe als das Zirpen des Loxia -Vogels oder den Schrei meiner Pfauen. Welch wundersame Welt muß das sein, darin alles und jedes in Worten zu sprechen vermag! – Oh, was gäbe ich nicht darum, wenn meine Rosen in einer Welt der Antworten erblühten!‹
In diesem Moment vollführte der Fremde, andeutend, daß ihn hungerte, einige Gesten, welche von Immalee sogleich verstanden wurden, so daß sie ihn bat, er möge ihr bis zu jenem Ort folgen, wo die Tamarinden und die Feigenbäume ihre Früchte zu Boden würfen, und das Wasser von so kristallener Klarheit wäre, daß man noch die purpurnen Muscheln auf dessen Grund zählen könnte. Dort wolle sie ihm in der Schale der Kokosnuß von dem kühlen Wasser schöpfen, das unter den Mangobäumen dahinflösse. – Da nun die beiden zusammen nach dem beschriebenen Ort wandelten, erzählte das Mädchen dem Fremden alles, was sie über sich wußte. So berichtete sie ihm, sie sei die Tochter eines Palmbaumes, weil sie in dessen Schatten erstmals zu lebendigem Bewußtsein erwacht sei, doch wäre ihr armer Vater schon vor geraumer Zeit dahingewelkt und abgestorben. Ferner, daß sie schon sehr alt sein müsse, weil sie schon viele Rosen an deren Stengel habe verdorren sehen, und daß, obschon so viele andere den Abgeblühten gefolgt wären, sie diese nimmermehr in dem Maße zu lieben vermocht habe wie jene allerersten, die auch erklecklich größer und leuchtender gewesen seien, – wie ja überhaupt in der letzten Zeit alles ringsum zunehmend kleiner werde, weil sie jetzt all die Früchte schon mit der Hand erreichen könne, deren Herabfallen sie in früheren Tagen habe abwarten müssen. Einzig das Wasser sei größer geworden, denn einstmals habe sie sich auf Hände und Knie niederlassen müssen, um davon zu trinken. Nun könne sie es jedoch stehend mit der Schale der Kokosnuß schöpfen.
›Wie aber kommt’s‹, so fragte ihr Begleiter, ›daß du in Worten redest, die dich niemals all diese Pfauenvögel lehren konnten?‹
›Dies will ich dir sagen‹, versetzte Immalee mit einem Ernst, welcher all ihrer Schönheit und Unschuld einen ebenso drolligen wie eindrucksvollen Anstrich verlieh, wobei sie auch ein wenig von dem Hang zur Geheimniskrämerei verriet, der ihr entzückendes Geschlecht von dem männlichen unterscheidet. ›Ein Geist ist zu mir aus dem Reiche der Stimmen gekommen und hat mir diese Klänge ins Ohr geflüstert, noch lange, lange Zeit, ehe ich das Licht dieser Welt erblickt.‹
›Ist’s möglich denn?‹ erstaunte sich der Fremdling.
›O ja! – Noch lange vor der Zeit, da ich die Früchte des Feigenbaumes zu pflücken oder das Wasser mit Händen zu schöpfen vermochte – und dies muß ja gewesen sein, noch ehe ich zur Welt gekommen. Da ich mich aber in ihr fand , war ich noch kleiner als die Knospe der Rose hoch war, nach welcher ich mich vergebens streckte. Nun aber bin ich dem Mond so nahe wie der Palmenbaum – ja, manchesmal gelingt’s mir sogar, die Mondstrahlen rascher zu erhaschen als jener. So muß ich denn sehr alt sein, und sehr groß.‹
Bei diesen Worten lehnte der Fremdling sich mit unbeschreiblichem Gesichtsausdruck gegen den Stamm eines Baumes und blickte auf dies liebliche und hilflose Wesen hinab, wobei er die Früchte und das Wasser, die sie ihm darbot, mit einem Blick zurückwies, darin erstmals etwas wie Mitgefühl schimmerte. Indes, so sonderbare Regung wohnte nicht lange in einem Haus, das nicht dafür gemacht war, und so wurde denn alsbald dieser Ausdruck aufs neue verdrängt durch jenes halb ironische, halb diabolische Funkeln, das dem arglosen Mädchen
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