Melmoth der Wanderer
war mit dem Wandel der Sitten wie mit dem ineinandergreifenden Räderwerk allen Geschehens.
Es mochte ja zutreffen, daß jener sonderbare, fremde Gast, in aller Außerordentlichkeit seines Wesens, welchem das moralische Gesetz wie das natürliche Gefühl gleichermaßen als ein Nichts zu gelten schienen, Immalees Gesellschaft als eine Art phantastisch-melancholischer Ruhepause empfand, als eine Unterbrechung jenes so unabänderlich über ihn verhängten Geschicks. Wir wissen es nicht, und werden es wohl auch nimmer sagen können, welcher Art die Gefühle gewesen, so jene arg- und hilflose Anmut ihm eingeflößt, doch war das Ergebnis solcher Einflößung in jedem Fall, daß es das holde Wesen nicht länger für ein Opfer anzusehen begann. So kam es, daß es mit jedem Tag stärker den Anschein hatte, als kostete er jene luziden Intervalle, welche dies im traulichen Nebeneinander geübte Frage- und Antwortspiel seiner aberwitzigen, morbiden Existenz gewährte, so recht von Herzen aus. Kaum aber hatte er von jener Insel Urlaub genommen und sich erneut der Welt zugewandt, machte er sich unverzüglich wieder an sein versucherisches Foltergeschäft, und zwar diesmal in jenem Tollhaus, darin ein Engländer namens Stanton sich ruhelos auf seinem Strohlager wälzte, und ...«
»Haltet ein!« unterbrach unser Melmoth den Erzähler. »Wie war der Name, den Ihr da erwähntet?«
»Geduld, Senor, habt Geduld mit mir«, wehrte ihm der Spanier, der es nicht liebte, unterbrochen zu werden. »Noch ein kleines, und Ihr werdet schon sehen, daß wir allesamt an dem nämlichen Bindfaden des Schicksals zappeln. Wozu also einander ins Wort fallen? Unsere Verbindung ist unauflöslich.« Und er fuhr in seiner Geschichte von jener unseligen Inderin fort, deren in Adonaias Pergamenten aufgezeichneten Wortlaut er zu transkribieren gezwungen gewesen, wobei er darauf bedacht war, jede einzelne Zeile, ja jeden Buchstaben davon, seinem Zuhörer getreulich einzuprägen, auf daß dadurch auch die außergewöhnliche Geschichte seines eigenen Lebens an Glaubwürdigkeit gewänne.
»Kaum aber, sagte ich, hatte er von dem Mädchen auf jener Insel Urlaub genommen, versuchte er sich erneut in dem soeben von mir beschriebenen Geschäft. Weilte er aber bei seiner Immalee, so schien jenes finstere Tun zu ruhen. Und so manches Mal blickte er auf dies Wesen mit Augen, deren bedrohliches, durchbohrendes Funkeln ausgelöscht war von jener Feuchtigkeit, welche er eilig hinwegwischte, um danach den Gegenstand seiner Bewunderung erneut unverwandt anzublicken. Und wenn er so an ihrer Seite saß, auf all den Blumen, welche sie für ihn gesammelt, – wenn er auf jenes schüchtern-rosige Lippenpaar blickte, das seiner Erlaubnis, zu sprechen, entgegenharrte wie die Knospen, die sich erst zu öffnen wagen, wenn der Strahl der Sonne sie küßt, – und wenn er diesen Lippen dann Laute entquellen hörte, deren Klang ihm die traurige Gewißheit gab, eher die Nachtigall das Lästern lehren denn solche Worte zur Bosheit pervertieren zu können, – dann mochte es geschehen, daß er neben diesem reinen Geschöpf zu Boden sank, sich mit der Hand über die fahle Stirn strich und, indem er einige Tropfen Schweiß von ihr wegwischte, einen Atemzug lang das Gefühl hatte, damit auch das Kainszeichen von derselben getilgt zu haben. Allein, der schöne Augenblick verweilte nicht, und die alte, undurchdringliche Schwermut senkte sich wieder über des Gebrandmarkten Seele.
Eines Abends, beschworen durch Immalees unablässiges Fragen nach jenen Welten, zu denen die Schiffe da draußen so eilig unterwegs waren oder von denen sie zurückkehrten, gab er ihr eine Beschreibung der Welt so recht nach seinem Herzen, eine Beschreibung, darin Hohn, Spott und Böswilligkeit mit der erbitterten Ungeduld ob der arglosen Neugierde solcher Fragerin sich mischten. Und so mischte sich denn auch in dem wild hingeworfenen Bild eine so teuflische Schärfe mit so beißender Ironie und so schrecklicher Wahrhaftigkeit, daß die Zuhörerin den Sprecher oftmals mit Ausrufen des Erstaunens, der Bekümmernis und des Entsetzens unterbrach. ›Da kommen sie aus einer Welt‹, so rief er, indem er auf die vorübergleitenden europäischen Segler wies ›deren Bewohner all ihr Sinnen und Trachten darauf gerichtet haben, ihre eigenen Leiden wie die der anderen bis zum Gipfelpunkt des Möglichen zu steigern! Und bedenkt man, daß sie dies Geschäft noch keine viertausend Jahre lang praktizieren, so muß man
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