Melmoth der Wanderer
Blumen, die nie verwelken können und eine Sonne, die niemals untergeht. Nach solchen Gedanken hätte ich mich jedesmal wie ein Vogel in die Lüfte schwingen mögen, – doch da war niemand, mir diesen Himmelspfad zu weisen.‹
Und die junge Schwärmerin hob den von ekstatischer Einbildungskraft tränenfeuchten Blick gen Himmel, um gleich danach den Fremden stumm und flehend anzusehen.
›Es ziemt sich‹, fuhr dieser fort, ›an solches höhere Wesen nicht bloß zu denken, sondern diesen Gedanken durch gewisse, sichtbare Handlungen auch Ausdruck zu verleihen. Die Bewohner jener Welt, welche du im Begriffe bist, kennenzulernen, nennen es Anbetung , und sie haben dafür recht unterschiedliche Gebräuche angenommen, die nur mehr in einem Punkt übereinstimmen, – nämlich in dem, aus aller Religion eine Quelle beständiger Martern zu machen: bei den einen eine Marter für sich selbst, bei den andern eine Marter für die andern. Allein, obschon, wie ich beobachtet habe, alle in jenem bedeutsamen Punkt übereinstimmen, so gehen unglücklicherweise ihre das Verfahren betreffenden Ansichten so weit auseinander, daß darüber schon viel Verwirrung über jene Welt des Denkens hereingebrochen ist.‹
›Über die Welt des Denkens!‹ wiederholte Immalee. ›Aber das ist doch unmöglich! Sie müssen sich doch gewiß sagen, daß alle Unterschiede für Ihn, der da Eins und unteilbar ist, keine Geltung haben können.‹
›Hast du denn nicht auch gewisse Gebräuche angenommen, deinen Gedanken an das höhere Wesen Ausdruck zu verleihen, ihm also zu huldigen?‹ fragte der Fremde.
›Nun ja, – ich lächle, sobald ich die Sonne in all ihrem Glanz heraufsteigen sehe, und ich weine beim Anblick des Abendsterns‹, gab Immalee zur Antwort.
›Du schrickst also vor der Unvereinbarkeit der verschiedenen Anbetungsbräuche zurück, machst aber für deine Person vom Lächeln und von den Tränen Gebrauch, um dich an die Gottheit zu wenden?‹
›Dies tue ich, – denn beides, das Lächeln wie die Tränen, ist ja der Ausdruck meiner Freude‹, entgegnete die arme Inderin. ›Auch die Sonne ist ja nicht minder glücklich, wenn sie durch die Regenwolken lächelt als im Mittelpunkt des heiteren Himmelsgewölbes und in all ihrer strahlenden Schönheit.
›Jene, welche du alsbald erblicken sollst‹, sprach da der Fremde, indem er ihr das Fernrohr aufs neue darbot, ›sind in ihren Anbetungsbräuchen so weit voneinander entfernt wie es das Lachen vom Weinen ist. Doch sind sie, anders als du, durchaus nicht glücklich dabei.‹ Immalee brachte ihr Auge abermals an das Fernrohr und stieß einen Entzückungsschrei aus über das Bild, das sich ihr zeigte. ›Was erblickst du?‹ fragte der Fremde. Immalee beschrieb es ihm in vielen, unzureichenden Ausdrücken, welche jedoch durch die erklärenden Worte des Fremden alsbald verständlicher wurden.
›Du siehst also‹, sagte er, ›die indische Küste, – das Ufer jener Welt, welche der deinen benachbart ist. – Jenes gewaltige Bauwerk, das als erstes dein Auge auf sich gezogen, ist die schwarze Pagode von Dschagganath. Nahebei erhebt sich eine türkische Moschee, – du magst sie an jenem Gebilde erkennen, das dem Halbmond gleicht. Nun ist es der Wille desjenigen, der über die Welt da drüben gebietet, daß deren Bewohner ihm unter diesem Zeichen huldigen sollen [15] . In einiger Entfernung von jener Moschee kannst du ein flacheres Bauwerk bemerken, dessen Spitze durch einen Dreizack gekrönt ist. Es ist dies der Tempel der Mahadeva, einer der alten Göttinnen des Landes.‹
Immalee erblickte eine riesige, sandige Fläche mit der schwarzen Pagode des Dschagganath im Hintergrund. Auf dieser Ebene lagen die Knochen tausender Totengerippe verstreut und bleichten in der brennenden, aller Feuchtigkeit baren Luft. Und weitere tausend menschliche Wesen, kaum lebendiger, kaum weniger abgezehrt als jenes Gebein, waren eben dabei, ihre verbrannten, schwärzlichen Kadaver durch den Sand zu schleppen, einzig zu dem Zweck, im Schatten jenes Tempels verenden zu können, und doch schon ohne Hoffnung, denselben jemals zu erreichen.
In nächster Nähe jenes grauenvollen Schauspiels kam jetzt ein prunkvoller Festzug seines Weges, dessen Glanz einen ebenso großartigen wie grauenvollen Kontrast zu all der ekelhaften, dahinsterbenden Verzweiflung animalischen und geistigen Lebens bildete, darüber sein pomphaftes Gepränge sich auftürmte und unter immer wieder aufblitzendem Gefunkel voranschob. Ein
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