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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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überragt war. Betroffen von der unaufdringlichen Schlichtheit seiner Erscheinung, sowie von der kärglichen Zahl und dem friedfertigen Gehaben derer, die sich darauf zubewegten, rief sie aus, dies müsse noch eine weitere Religion sein, und begehrte eifrig, Namen und Ritual derselben zu erfahren. Der Fremde überwand sein Unbehagen angesichts dessen, was Immalee da entdeckt hatte, und wurde zusehends unwilliger, da er die Fragen, welche solche Entdeckung nach sich zog, beantworten sollte. Doch wurden diese mit so rastloser, einschmeichelnder Dringlichkeit gestellt, und die Fragerin wechselte so sprunghaft und unvermittelt von ihrer tiefgründigen Nachdenklichkeit zu einer kindlichen, wenngleich gescheiten Neugierde über, daß es einfach nicht in der Macht des Menschen stand – soweit wir hier von einem Menschen reden können –, ihr zu widerstehen.
    Er fühlte sich veranlaßt, dem Mädchen zu sagen, was sie da erblickte, sei in der Tat eine neue Religion, und zwar die Religion eines gewissen Christus.
    ›Auf welche Weise aber beten jene zu ihrem Gott?‹ fragte Immalee. ›Morden auch sie, um Gott ihre Liebe zu zeigen?‹
    ›Die Religion, zu der jene Christen sich bekennen, verbietet ihnen das‹, gab der Fremde widerwillig zu.
    ›Aber warum treten sie am Eingang ihres Tempels jene nicht mit Füßen, die anders denken als sie selbst?‹
    ›Weil ihre Religion es ihnen zur Pflicht macht, ihren Mitmenschen gegenüber sanft, wohlwollend und duldsam zu sein, und jene, die noch nicht des reineren Lichtes teilhaft geworden, weder zurückzustoßen noch verächtlich zu machen.‹
    ›Warum aber haftet ihrer Gottesverehrung nichts Glänzendes oder Prunkvolles an, nichts Großartiges oder Anziehendes?‹
    ›Weil sie sich bewußt sind, daß man die Gottheit auf die rechte Weise nur mit reinem Herzen und mit unbefleckten Händen ehren kann. Und obschon ihre Religion dem wahren Bußfertigen alle Hoffnung gibt, so schmeichelt sie doch keinem mit dem falschen Versprechen, er könne durch äußerliche Frömmigkeit die Demut des Herzens ersetzen. Diese Religion setzt nicht die künstliche, aufs Auge bedachte Frömmigkeit an die Stelle der schlichten Anbetung eines Gottes, vor dessen Thron, nachdem auch die stolzesten, ihm zu Ehren errichteten Tempel in Schutt und Asche gesunken sind, noch immer die Herzen der Gläubigen brennen werden als ein unauslöschliches, Ihm wohlgefälliges Opfer.‹
    Bei diesen Worten (welche zu sprechen den Fremden vielleicht eine höhere Macht gezwungen) neigte Immalee ihr erglühendes Antlitz zu Boden, richtete es danach mit einem Ausdruck, als wäre sie soeben ein Engel geworden, gen Himmel und rief aus: ›So soll denn jener Christus mein Gott sein – ich will eine Christin werden!‹ Und abermals neigte sie sich in jener tiefen Demut, welche das Zeichen der Unterwerfung von Leib und Seele ist, und verharrte in der Haltung innerer Versunkenheit so lange, daß sie, nachdem sie sich aus derselben erhoben, das Fehlen ihres Begleiters gar nicht bemerkte. – ›Er hatte murrend sich von ihr gehoben, und nahm mit sich die Schatten aller Nacht.‹«

SIEBZEHNTES KAPITEL
    »Wie – es war doch meine Rede,
die Heiratslizenz von dem Kadi zu erwirken. «
    Blaubart

     
    »Die Besuche des Fremden setzten eine Zeitlang aus, und als er sich endlich aufs neue zeigte, schien er damit auch eine neue Absicht zu verfolgen. Nicht länger unternahm er es, seines Opfers festgefügte Prinzipien zu unterminieren, des Mädchens Auffassung durch Spitzfindigkeit zu verwirren oder sie in den Dingen der Heiligen Religion zu mystifizieren. In Ansehung des letztgenannten Gegenstandes verhielt er sich äußerst schweigsam, schien zu bedauern, denselben jemals berührt zu haben, und ließ sich weder durch Immalees grenzenlose Wißbegier, noch durch ihr schmeichelndes Drängen auch nur eine weitere Silbe in der bewußten Sache entreißen. Hingegen entschädigte er die Fragerin reichlich durch die Fülle mannigfaltigster, weitläufigster Geistesschätze, die, so hatte es den Anschein, zu sammeln ein einziges Menschenleben nimmermehr ausgereicht hätte, dieweil dasselbe doch, wenn’s hoch kommt, nur siebzig Jahre währt. Doch dieser bemerkenswerte Umstand fiel unserer Immalee, welche ja ›außerhalb der Zeit‹ lebte, nicht weiter auf. Ob etwas sich erst gestern oder schon vor Jahrhunderten zugetragen, was galt das schon einem Geist, dem die Ereignisse so unbekannt waren wie deren Zeitpunkt, einem Geist, der ebenso unvertraut

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