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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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ungeheures Gebilde, das viel eher einem wandelnden Palast als einem Triumphwagen glich, trug das in einem Schrein beschlossene Götzenbild des Dschagganath und wurde vorwärtsgezerrt durch die vereinten Anstrengungen von etwa tausend menschlichen Wesen, Priester wie Opfer, Brahmanen wie Fakire und so weiter. Wie nun jene Prozession so funkelnd inmitten des Verderbens voranschritt, stürzten immer wieder Scharen von Menschen auf den riesigen Wagen zu und warfen sich vor die Räder jener ungeheuren Vernichtungsmaschine, die ihre Opfer alsbald zu Staub zermalmte, und weiter ihres Weges gezogen ward.
    ›Sieh jenen viereckigen Steinbau‹, sprach der Versucher, ›um den einige Versprengte sich geschart haben, und dessen Spitze gekrönt ist von einem Dreizack! Es ist dies das Heiligtum der Mahadeva, jener Göttin, die weder die Macht des großen Abgottes Dschagganath, noch auch dessen Beliebtheit besitzt. Sieh hin und achte darauf, auf welche Weise die Beter sich jener Göttin nahen!‹ Immalee erblickte Frauen, welche Blumen, Früchte und wohlriechendes Räucherwerk zum Opfer darbrachten. Auch hatten einige junge Mädchen Vogelkäfige mit sich gebracht und gaben deren Insassen nunmehr die Freiheit zurück.
    Angesichts so harmloser, ja reizender Formen des Aberglaubens begann Immalee vor Entzücken zu lächeln. ›Das ist keine Religion der Marter und der Qual‹, sagte sie.
    ›Sieh weiter hin‹, befahl der Fremde. Und da Immalee ihm gehorchte, erblickte sie die nämlichen Frauen, deren Hände eben noch den Käfigvögeln ihre Freiheit wiedergegeben, damit beschäftigt, die eigenen Neugeborenen in Körben an die Äste der den Tempel überschattenden Bäume zu hängen, damit die wehrlosen Wesen dort vor Hunger stürben oder von den Vögeln aufgezehrt würden, dieweil die Mütter zu Ehren der Göttin sich dem Tanz und dem Gesang ergaben.
    ›Und dennoch‹, wiederholte der Fremde, ›sieh hin! Nicht alle Religionen haben so grausame Riten.‹ Abermals sah Immalee durch das Fernrohr. Nun erblickte sie die türkische Moschee, die sich in all jenem Glanz auftürmte, mit welchem die Religion Mahomets bei den Hindus eingeführt ward. Soeben stolzierte eine Gruppe stattlicher Türken, dem Gebetsrufe des Muezzins Folge leistend, auf die Moschee zu. Die edelgeschnittenen und gedankenvollen Züge, das hoheitsvolle Gehaben und die vornehmen Gestalten, all dies stand in eindrucksvollem Kontrast zu dem stumpfsinnigen Erscheinungsbild und dem ekelhaften Schmutz der halbnackt auf ihren Schenkeln hockenden Hindus, die ihre Reismahlzeit verzehrten, während die stattlichen Türken an ihnen vorüber zur Andacht schritten. Immalee betrachtete sie denn auch mit ehrfürchtigem Wohlgefallen und wollte schon meinen, daß die Religion, welcher jene so vornehm aussehenden Wesen anhingen, ihr Gutes haben müsse, als die Türken vor dem Betreten ihrer Moschee plötzlich innehielten und jene harmlosen, erschrockenen Hindus zu bespeien und mit Füßen zu treten begannen. Immalee fragte den Fremden nach der Ursache jener Szene.
    ›Ihre Religion‹, antwortete dieser, ›gebietet ihnen, all die zu hassen, welche Gott nicht auf die nämliche Weise anbeten wie sie.‹
    ›Ach‹, sagte Immalee und weinte. ›Ist solcher Haß, den ihre Religion sie lehrt, nicht ein Beweis dafür, daß diese Religion die schlimmste ist? Doch wie kommt es, daß ich unter diesen keins der lieblicheren Geschöpfe gewahre, welche anders gekleidet gehen und die du Frauen nennst?‹
    › Jene Religion‹, erwiderte der Fremde, ›hat nicht viel Gutes für die genannten Geschöpfe, deren lieblichstes du bist. Sie lehrt nämlich, die Männer würden in der Welt der Seelen andere Gefährtinnen haben, ja sie besagt nicht einmal, daß ihre Frauen dort Eingang finden werden.‹
    Bei diesen Worten verspürte Immalee einen unaussprechlichen Seelenekel vor aller Religion, wie sie ihr da ausgemalt worden, weil ja wirklich nichts anderes daraus entstanden war als ein erschreckendes Bild von Blut und Grausamkeit sowie von der Verkehrung jeglichen Gebots der Natur und der Zerreißung aller Herzensbindung.
    So warf sie sich denn zu Boden und rief aus: ›Es gibt keinen Gott, wenn es nur solche Götter gibt!‹ Dann erhob sie sich wieder, als wollte sie einen letzten Blick hinüber tun, in der verzweifelten Hoffnung, all das möge nur eine Sinnestäuschung gewesen sein. Dabei aber entdeckte sie ein weiteres, kleines, unauffälliges, von Palmen überschattetes Bauwerk, welches von einem Kreuz

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