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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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zugeben, daß sie es darin zu einer beträchtlichen Fertigkeit gebracht haben.‹
    ›Ist es denn die Möglichkeit?‹
    ›So höre mich an und urteile selbst. In der Verfolgung eines so erstrebenswerten Zieles kommen ihnen unzweifelhaft zwei Geschenke der Natur zugute: einmal die Hinfälligkeit des Leibes, zum zweiten aber die Bosheit ihrer Leidenschaften. Um sich nun in Ansehung solcher Gaben nicht als undankbar zu erweisen, verbringen sie ihr Leben in dem unablässigen Bemühen, diese beiden Eigenschaften nach Kräften zu fördern. Anders als du, Immalee, atmen sie nicht unter Rosen, nähren sie sich nicht bloß von dem Saft der Früchte und dem sprudelnden Quell des reinen Elements. Um ihr Denkvermögen zu steigern und ihren Geist zu befeuern, verzehren sie Tierleichen und pressen den mißbrauchten Früchten des Feldes ein Getränk ab, welches zwar nicht den Durst, wohl aber den Verstand löscht, die Leidenschaften anstachelt und das Leben verkürzt – dies ist noch das beste daran, weil ja das einzige Glück solchen Lebens in der Kürze seiner Dauer beschlossen liegt.‹
    Die Erwähnung des Verzehrens von Tierleichen hatte Immalee nicht anders erschaudern lassen, als die empfindsamste Europäerin bei der Erwähnung einer kannibalischen Schmauserei erschaudert wäre. Und während ihre seelenvollen Augen in Tränen schwammen, wandte sie den wehmutsvollen Blick ihren Pfauenvögeln mit einem Ausdruck zu, welcher den Fremden lächeln machte. ›Manche indes‹, so sprach er in überaus tröstlichem Ton, ›sind in ihrem Geschmack bei weitem nicht so wählerisch und geben sich unbesehen mit dem Fleisch ihrer Artgenossen zufrieden. Und weil ja das Leben der Menschen unter beständigem Elend sich vollzieht, anders als jenes der Tiere (welche bloß aus natürlichen Ursachen leiden), so könnte man in der Tat in solchem Fleischgenuß noch die humanste und ersprießlichste Art und Weise erblicken, mit der Befriedigung des Appetits zugleich auch die Gesamtheit des Menschenleids zu mindern. Da aber jene Leute sich auch noch die Vermehrung ihrer Leiden zugute halten, lassen sie Jahr für Jahr Tausende von menschlichen Wesen Hungers sterben oder am Gram zugrunde gehen, und finden ihre Befriedigung in der Verzehrung von Tieren, welche sie mit deren Leben auch der einzigen Freude berauben, so der animalische Zustand ihnen verstattet. Haben sie es solcherart, nämlich durch unnatürliche Ernährung und übertriebenen Genuß ihrer Reizmittel, glücklich dazu gebracht, ihre Hinfälligkeit zur Krankheit und ihre hitzige Leidenschaft zum Wahnsinn zu steigern, so gehen sie unverzüglich dazu über, die Beweise ihres Erfolges mit einer wahrhaft bewundernswerten Könnerschaft und Konsequenz zur Schau zu stellen. Nicht wie du, Immalee, leben sie ja in der idyllischen Abgeschiedenheit der Natur – ruhend am Busen der Erde, schlafend unter dem unverschleierten Blick der tausend Augen des nächtlichen Himmels – nackten Fußes dahinwandelnd über den Teppich von Gras, bis daß deinem leichten Schritt ein jeder Halm wie ein vertrauter Freund ist. O nein, jene Menschen, sie müssen in Verfolgung ihres Zieles sogar ihre Nahrung, die schon von sich aus giftig ist, noch verderblicher machen durch die Luft, die sie atmen. Zu diesem Zweck drängen sich die Gesitteteren von ihnen auf so engem Raum zusammen, daß ihr Atem im Verein mit der Ausdünstung ihrer Körper einen Pesthauch erzeugt, unter welchem Krankheit wie Tod mit größter Beschleunigung um sich greifen. Das Ergebnis dieser grundvernünftigen Maßnahmen entspricht denn auch durchaus aller Erwartung. Noch die geringfügigste Unpäßlichkeit wird alsbald zur galoppierenden Seuche, und während solche Pestilenz durch die Gassen rast, sind zehntausend Menschenleben pro Tag der Tribut, den die Gewohnheit, in Städten zusammenzuleben, dem Tode zu entrichten hat.‹
    ›Allein, sie sterben doch in den Armen derer, die sie lieben‹, meinte Immalee, welche dieser Erzählung unter beständigem Tränenfluß zugehört hatte. ›Und selbst solcher Tod, ist er nicht einem Leben in Einsamkeit vorzuziehen – einem Leben, wie ich es geführt, bis zu der Stunde, da ich dich erblickte?‹
    Doch der Fremde war zu sehr von seiner Beschreibung in Anspruch genommen, als daß er die Fragerin auch nur beachtet hätte. ›In diesen Städten kriechen sie zusammen, vorgeblich um der größeren Sicherheit und des besseren Schutzes willen, in Wahrheit aber zu dem einzigen Zweck, welchem ihr Dasein geweiht ist

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