Melmoth der Wanderer
aller Menschlichkeit durch eine Kluft, die keiner überbrückt. Enterbt von der Natur geht es umher, die glücklicheren Brüder zu versuchen, ja zu verfluchen, wenn das möglich ist. Ein Wesen, das – doch was hält mich zurück, dir im Momente alles zu enthüllen?‹
In diesem Augenblick erhellte ein heftiger Blitzstrahl das gesamte Tempelgemäuer mit einem so schrecklichen, unerträglichen Licht, daß kein menschliches Auge demselben standzuhalten vermocht hätte. Auch Immalee, vom Entsetzen wie von ihrer inneren Bewegung überwältigt, bedeckte, während sie in ihrer knienden Stellung verharrte, mit den Händen ihre schmerzenden Augen.
Während dieser kurzen Zeitspanne war es ihr, als vernähme sie noch eine andere Stimme, welcher der Fremde Antwort gab. Und dieweil das Donnergetöse fernhin verrollte, hörte sie ihn sagen: ›Dies hier ist meine Stunde, nicht die deine – heb dich hinweg und störe mich nicht länger!‹ Da sie aber den Blick zu ihm erhob, war alle menschliche Regung aus seinem Antlitz geschwunden.
›Erbarmen!‹ schrie die erschaudernde Inderin auf, wobei sie sich vergebens mühte, in jenem versteinten Blick, zu dem ihr tränenvoller bittend aufgeschlagen war, ein menschliches Fühlen zu entdecken. ›Erbarmen!‹ Und da sie dies Wort ausrief, wußte sie nicht, was sie denn da von sich abzuwenden suchte, und wovor sie solche Furcht empfand.
Der Fremde schwieg, entspannte keinen Muskel. Es war, als fühlte er dies Mädchen nicht mit jenen Händen, welche nach ihr griffen, als sähe er sie nicht mit diesen Augen, die starr und kalt auf sie herniederblickten. Er trug, nein zerrte sie zu jenem Bogen, der einst das Tor des Tempels überwölbt, doch nun, zerscherbt, zertrümmert wie er war, weit mehr dem gähnend aufgerissenen Schlunde von irgendwelchen Höhlenwelten glich, drin die Bewohner einer Wüste hausen, denn einem Werk der Kunst von Menschenhand, errichtet zu der Gottheit Preis und Ehre. ›Du riefest um Erbarmen‹, sprach der Fremde in einem Ton, der noch in all der Hitze, darin das Mädchen nimmer atmen konnte, das Blut ihr stocken machte in den Adern. ›Du riefest um Erbarmen‹, sagte er. ›Wohlan, und dies Erbarmen sollst du haben. Mir selber ward ja keines, doch ich habe mein arges Los ja selbst herausgefordert und hab’ dafür den rechten Lohn empfangen. So blick denn dort hinüber und erzittre – und sieh genau hin, ich befehl’ es dir!‹ Bei diesen Worten stampfte er den Boden mit solcher Ungeduld und Gewalt, daß das Entsetzen dieses zarten Wesens, das sich unter seinem Griff schaudernd wand, vollkommen ward, und die Geängstigte mehr tot als lebendig seiner Drohung folgte.
›Sieh auf‹, so sprach er weiter ›und so den Trieben deines Herzens du nicht gebieten kannst, so laß denn mich ein edleres Objekt für dich erwählen! Schenk deine Liebe besser jenem Sturme, der so gewaltig alles rings zerstört, schenk sie dem Meteor, das pfeilgeschwind die Luft durchrast, dem Donner, der sie aufwühlt! Such Schutz und Schirm bei jenem Wolkenturm, bei jenem bodenlosen Himmelsberg! Erwirb die Gunst des Blitzes, dessen Feuer herniederfährt und dir die Brust versengt! Such alles deiner Liebe zum Gefährten, was da entsetzlich ist in der Natur, und fleh es an, es möge dich verbrennen, vernichten in so glühender Umarmung, die dir ein besseres Glück im Tod beschert, als meine dir gewähren kann im Leben! War’s Leben , das ich sage? – Ach, wer könnte mein Eigen sein und dennoch weiterleben! So hör denn, Immalee‹, beschwor er sie, dieweil er ihre zarte Hand umspannte und wie gebannt an ihrem Antlitz hing mit einem Blicke, dessen düstre Glut das arme Opfer zu verzehren schien. Ein sonderbares, schwärmerisches Fühlen gab seiner Stimme einen neuen Klang: ›So hör mich an! Willst du die meine sein, so wird dies Chaos ewig dich umgeben, – umhüllt von Finsternis, umzuckt von Flammen, inmitten von Verzweiflung, Wut und Haß, so wirst zu leben, bis ...‹ und seine Stimme schlug ihm um in ein dämonisches Geheul der Wut und des Entsetzens, das ihm die Arme auseinanderzwang, als läge er mit irgendwelchen fürchterlichen Gegnern im unsichtbaren Kampf auf Tod und Leben. So trat er aus dem Tore, ganz verloren in jenes Bild, das ihm die eigne Schuld, die eigne Verzweiflung eingegeben, und das zu schauen ewig er verdammt war.
Die zarte Gestalt, die sich an ihn geklammert hatte, wurde durch seinen plötzlichen Schritt ihm zu Füßen hingestreckt. Mit vor Entsetzen erstickter
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