Melmoth der Wanderer
nahezu Mittag geworden, und man wartete mit dem Essen, das in einem tiefgelegenen, kühlen, dem Garten zugewandten Gemach aufgetragen ward, nur noch auf die Ankunft von Pater José, welcher der Beichtiger der Familie war. Solche Ankunft ließ nicht allzu lange auf sich warten: Pater José, ein Mann von beträchtlichem Umfang, kam auf einem Maultier angeritten. Sein durchfurchtes Antlitz mochte zunächst als das eines profunden Denkers erscheinen, doch auf den zweiten Blick schienen jene Furchen sich eher einer physischen Eigenart denn einer geistigen Anspannung zu verdanken. Zwar war dem Geist der Zugang geöffnet, allein dessen Strom hatte sich ein anderes Bett gesucht. Dennoch war dieser Pater José, obschon von lückenhafter Bildung und von begrenztem Verstand, ein im ganzen guter und wohlmeinender Mensch. Da nun das Mittagsmahl sich seinem Ende zuneigte, und man beim Obst und beim Wein angelangt war (welch letzterem nur die Herren zusprachen, wobei die erlesensten Sorten von beidem dem Pater José kredenzt wurden), erhob sich Isidora unvermittelt von ihrem Sitz und begab sich, nachdem sie vor ihrer Mutter und dem Beichtiger eine tiefe Verneigung vollführt hatte, wie gewöhnlich in ihre Gemächer. Donna Clara aber warf dem Pater einen fragenden Blick zu.
›Es ist dies wohl die Stunde ihrer Siesta‹, meinte jener, indem er sich einer üppigen Weintraube bemächtigte.
›O nein, hochwürdiger Vater, mitnichten!‹ sagte Donna Clara bedrückt. ›Wie die Zofe mir berichtet, legt das Kind sich keineswegs zur Ruhe. Ach, sie ward ja in jenen kochenden Breiten, darin sie ihre verlorene Kindheit verbracht, an ein solches Klima viel zu sehr gewöhnt, als daß sie die Hitze so empfinden könnte, wie es sich gemeinhin für den Christenmenschen geziemt. O nein, sie zieht sich weder zum Schlafe zurück noch auch um zu beten, wie ihr dies nach dem frommen Brauch der spanischen Frauen zukäme! Vielmehr fürchte ich, daß sie ...‹
›Daß sie was?‹ fragte der Gottesmann mit erschrockener Stimme.
›Daß sie nachdenkt ! Jawohl, dies ist es, was ich fürchte‹, sagte Donna Clara. ›Nur zu oft gewahre ich ja bei ihrer Rückkehr die Spur von Tränen auf ihren Wangen. Und ich zittere, hochwürdiger Vater, ob denn solche Tränen nicht um jener heißen Landstriche willen vergossen sind, um jener Region des Satans willen, darin Isidora ihre Jugend verbracht hat.‹
›So will ich ihr eine saftige Buße aufgeben‹, meinte der Pater José. ›Dies wird ihr alle tränenreiche Aufregung ersparen, zumindest soweit es derlei Erinnerungen betrifft – in der Tat, diese Trauben sind überaus delikat!‹
›Allein, hochwürdiger Vater‹, beharrte Donna Clara mit all der albernen, jedoch stets wachen Ängstlichkeit des abergläubischen Gemüts, ›wenn Ihr mir auch in diesem Punkt die Seele erleichtert habt, so bin ich dennoch in tiefster Sorge. Ihr macht Euch ja keinen Begriff, welche Dinge dies Kind bisweilen imstande ist, zu sagen! Es scheint, als hätte sie alles Wissen aus sich selber und bedürfte keines anderen Beichtigers oder Seelenhirten neben ihrem eigenen Herzen!‹
›Wie!‹ rief da der Pater José, ›sie bedürfte keines Seelenhirten oder Beichtigers? – So muß sie von Sinnen sein!‹
›Ach, hochwürdiger Vater‹, setzte Donna Clara fort, ›sie sagt ja oftmals Dinge in ihrer sanften, unwiderleglichen Art, welchen ich mit all meiner Autorität als Mutter einfach nicht mehr ...‹
›Was denn – wie soll ich das verstehen?‹ unterbrach sie der Gottesmann in strengem Ton. ›Soll das heißen, sie widersetzt sich einem der Gebote unserer Heiligen Katholischen Kirche?‹
›Nein! Nein! Da sei Gott vor!‹ beteuerte die entsetzte Donna Clara, indem sie das Heilige Kreuzzeichen über sich schlug.
›Nun also – was dann?‹
›Meiner Treu – sie redet in einer Art, wie Ihr selbst, hochwürdiger Vater, oder irgendeiner aus der hochwürdigen Bruderschaft, dessen Worte meine Ergebenheit der Heiligen Kirche gegenüber mich hat anhören lassen, noch niemals gesprochen! Und es ist in den Wind geredet, wenn ich ihr vor Augen halte, daß die Heilige Religion vor allem im Besuch der Heiligen Messe ihren Ausdruck findet, – im Ablegen der Heiligen Beichte, – im Vollzug der Bußübungen, – im Halten der Fasttage und der Vigilien, – in der Kasteiung und der Enthaltsamkeit, – in dem unverbrüchlichen Glauben an alles, was die Heilige Kirche uns lehrt, – im Haß, in der Verachtung, im Abscheu und in der
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