Melmoth der Wanderer
später, er habe den Fremden eine Geste vollführen sehen, welche dem hastigen Fortwischen einer Träne geglichen. Nun waren aber seinem Auge die Tränen der Reue auf ewig versagt. Hätte es denn möglich sein können, daß jene Gebärde einer Träne der Liebe gegolten? Wenn ja – wieviel Weh und Jammer für die Geliebte wäre dann in solcher Träne beschlossen gewesen!«
ZWANZIGSTES KAPITEL
Was wär’ alle Liebe, blieb’ treu nicht das Herz
In Ruhm und in Schande, in Freude und Schmerz!
Ich weiß nicht, ich frag’ nicht, was arg an dir ist,
Doch ich weiß, ich muß dich lieben, was immer du bist.
Moore
»Schon anderntags sollte das junge Mädchen, welches noch am Abend zuvor so viel Anteilnahme hervorgerufen hatte, Madrid verlassen, um einige Wochen in einem Landhaus zu verbringen, das unweit der Stadt gelegen war und sich im Besitz ihrer Familie befand. Ihre Begleitung bestand aus des Mädchens Mutter Donna Clara di Aliaga, Gemahlin eines über die Maßen wohlhabenden Laufherrn, dessen Heimkehr aus dem fernen Indien von einem Monat auf den andern erwartet wurde, ferner aus ihrem Bruder Don Fernan di Aliaga und einigen Bedienten.
Donna Clara war eine Frau von kalter und düsterer Gemütsart, in welcher die zeremoniöse Würde des Spaniers und all die nüchterne Härte der Bigotterie sich vereinten. Don Fernan hingegen trug sowohl feurige Leidenschaftlichkeit als auch ein finsteres Gehaben zur Schau, eine Mischung, welcher wir in Spanien ja nicht selten begegnen. Sein dümmlicher und eigensüchtiger Hochmut litt beständig unter dem Gedanken, daß seine Familie sich mit Handelsgeschäften beschmutze, und da er in der unvergleichlichen Schönheit seiner Schwester bloß das mögliche Mittel erblickte, mit einem Geschlecht von Rang und Namen in verwandtschaftliche Beziehungen zu kommen, betrachtete er sie mit jener selbstsüchtigen Vorliebe, welche den, der sie empfindet, so wenig auszeichnet wie das Objekt, auf das sie gerichtet ist.
Man war schon geraume Zeit unterwegs (in einer angejahrten holpernden und polternden Kutsche), als Donna Clara, welche nur dann das Wort zu ergreifen pflegte, wenn ein langes, einleitendes Schweigen ihrer Rede vorausgegangen war – vielleicht, um solchen Äußerungen jenes Gewicht zu verleihen, dessen dieselben im andern Fall entraten hätten –, mit orakelhafter Bedächtigkeit zu sprechen begann und sagte: ›Meine Tochter, wie ich höre, bist du gestern abend auf dem Corso in eine Ohnmacht gefallen. War es denn eine Begegnung, welche dich dermaßen in Überraschung oder in Schrecken versetzt hat?‹
›Nein, teuerste Frau Mutter.‹
›Was sonst könnte dann die Ursache jener Affektion gewesen sein, wie du sie – ich weiß es nur vom Hörensagen – beim Anblick einer Persönlichkeit von ausgefallenem Gehaben an den Tag gelegt hast?‹
›Ach nein – ich kann es nicht sagen, ich wag’ es nicht!‹ rief da Isidora aus (dies der spanische Name unserer Immalee), indem sie den Schleier über ihre erglühenden Wangen fallen ließ. Gleich danach aber überflutete die unwiderstehliche Geradheit ihrer früheren Natur ihr das Herz und die Sinne, sie sank von ihrem Sitzpolster zu Donna Claras Füßen und schluchzte: ›Ach, liebste Mutter, ich will Euch alles gestehen!‹
›Da sei Gott vor!‹ entgegnete Donna Clara, indem sie ihre Tochter mit der Kälte beleidigten Stolzes von sich stieß. ›O nein! – Dies ist nicht der rechte Anlaß! Ich bedarf keines Vertrauens, welches mir in demselben Atem vorenthalten und aufgenötigt wird. Und noch weniger liebe ich all diese heftigen Gefühlsaufwallungen – sie stehen einer Jungfrau übel zu Gesicht. Du hast nur zu sprechen, wenn ich selbst, dein Bruder oder der Pater José dich daraufhin anreden. Und es gibt ganz gewiß keine anderen Pflichten, welche so leicht zu erfüllen wären wie diese. So steh auf und gebiete deine Tränen! Quält dich aber dein Gewissen, so eröffne dasselbe dem Pater José, welcher, ich zweifle nicht, dir eine dem Gewicht deines Vergehens angemessene Buße auferlegen wird. Und ich will nur hoffen, daß er das Maß seiner Duldsamkeit nicht über Gebühr anwendet!‹ Dies gesagt, lehnte sich Donna Clara, welche noch nie zuvor eine so lange Rede von sich gegeben hatte, in ihre Polster zurück und begann, mit all der ihr eigenen Frömmigkeit ihren Rosenkranz herzubeten, bis das Anhalten der Kutsche an deren Bestimmungsort die fromme Beterin aus einem tiefen und friedlichen Schlummer weckte.
Es war
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