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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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(Geschäftsbriefe ausgenommen) war so groß und wohlbekannt, daß Donna Clara einen echten Schrecken verspürte, als sie an dem Abend des nämlichen Tages, an welchem ihre Antwort abgegangen, ein weiteres Handschreiben ihres Ehegemahls empfing.
    Der Inhalt besagten Schreibens darf wohl als ohne Zweifel einzigartig betrachtet werden, weil er ja bewirkte, daß Donna Clara und Pater José fast die ganze Nacht darüber wachten und sich voll Besorgnis, ja Furcht miteinander beratschlagten. Uns ist berichtet, diese Konferenz sei so eindringlich geführt worden, daß sie kein einziges Mal eine Unterbrechung erfuhr, weder durch das Rosenkranzbeten der Herrin noch auch durch die gefräßigen Abendbrotgedanken des Mönches. Wieder und wieder studierten sie dies außerordentliche Schreiben, und mit jedem neuen Durchlesen wurden ihre Gemüter stärker verdüstert, – ihre Beratschlagungen tiefer verwirrt, – ihre Blicke niedergeschlagener. Der Brief enthielt, unter anderen, für den Leser weniger wichtigen Dingen, die folgende, außergewöhnliche Passage:
    Auf meiner Reise von Ort unserer Landung zu jenem, an welchem ich dies niederschreibe, war es mir beschieden, in die Gesellschaft einiger Fremdlinge zu geraten, von denen ich Dinge vernommen, welche (zwar nicht durch die Absicht der Sprecher, sondern vielmehr durch die Bedeutung, welche meine Furcht deren Worten beilegte) mich in dem heikelsten Punkt der Seele verwundeten, darin ein christlicher Vater getroffen werden kann. Ich will besagte Dinge bei passender Gelegenheit näher mit Dir erörtern. Sie haben viel Schreckliches an sich, von einer Art, wie sie vielleicht nur mit Hilfe eines Gottesmanns recht eigentlich verstanden und ergründet werden mag. Dessenungeachtet kann ich Deiner Verschwiegenheit anvertrauen, daß ich mich, sobald ich von jener sonderbaren Gesellschaft Urlaub genommen, deren Gespräche ich Dir auf brieflichem Wege nicht mitzuteilen vermag, in meine Schlafkammer zurückgezogen, woselbst ich, voll der trübseligsten und bedrückendsten Gedanken, noch lange wach saß, da ich, obschon dem Einschlafen nahe, doch nicht willens war, mich zu Bett zu begeben, wie dies ja auch andere schon des öftern an sich beobachtet haben –, jedenfalls nahm ich Deine Briefe aus meinem Reisepult, darin ich sie nach Gebühr verwahre, und überlas noch einmal die Beschreibung, welche Du mir von unserer Tochter gegeben hast, nachdem sie auf jenem verfluchten Eiland in den heidnischen Breiten aufgefunden worden war. Und ich darf Dir versichern, daß solche Beschreibung so tief in jenem Busen, an den diese Tochter noch niemals gedrückt wurde, eingegraben ist, daß dies Bild an Ähnlichkeit das Werk aller Porträtmaler Spaniens übertrifft.
    Dieweil ich also an jene tiefblauen Augen dachte, – an jene natürliche Lockenpracht, welche sich ihrer neuen Meisterin, der Kunst, ganz gewiß nicht fügen wird, – an jene sanft gerundeten formen, – und schon in dem Gedanken daran schwelgte, wie sich dies Wesen alsbald in meine Arme schmiegen und in christlichen Worten den Segen seines christlichen Vaters erflehen werde, verfiel ich, noch in meinem Lehnsessel sitzend, in Halbschlaf. Und wie sich meine Träume mit den wachen Gedanken vermischten, glaubte ich, ein ebenso schönes, liebevolles und engelhaftes Wesen neben mir sitzen und meinen Segen erflehen zu sehen. Indem ich mich aber zu diesem Zweck vorneigte, fiel mir das Haupt auf die Brust, und ich erwachte. Ich sage mit Vorbedacht ›erwachte‹, da ja alles, was sich nunmehr ereignen sollte, dem menschlichen Auge nicht minder deutlich sichtbar war, denn die Einrichtung meines Gemaches oder irgendein anderer, greifbarer Gegenstand. Mir gegenüber hatte also eine Frauengestalt Platz genommen, welche zu ihrer spanischen Kleidung einen bis zu den Füßen niederwallenden Schleier trug. Sie saß bloß da und schien darauf zu warten, daß ich als erster das Wort an sie richtete. ›Mädchen‹, so sprach ich sie an ›was suchst du und was ist dein Begehr?‹ Die Gestalt lüftete aber weder ihren Schleier, noch bewegte sie die Lippen oder auch nur einen Finger. Das Haupt war mir übervoll von all dem, was ich mitangehört und danach in mich hineingelesen hatte, und so schlug ich das Heilige Kreuzzeichen über mich, sagte die entsprechenden Gebete her und näherte mich der Gestalt, indem ich abermals fragte: ›Mädchen, was also wünschest du?‹
    ›Einen Vater‹, erwiderte die Angeredete und hob ihren Schleier, dergestalt die

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