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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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unverkennbaren Züge meiner Tochter Isidora enthüllend, wie Du mir dieselbe in Deinen zahlreichen Briefen beschrieben hast. So magst Du recht wohl die Bestürzung ermessen, die ich nahezu schon als Furcht bezeichnen möchte, welche mich beim Anblick und bei den Worten dieser anmutigen, doch so seltsamen und feierlich-ernsten Gestalt befiel. Solche Bestürzung wurde nicht vermindert, sondern vielmehr noch verstärkt durch den Umstand, daß diese Gestalt sich erhob und auf die Tür wies, durch welche sie alsbald mit geheimnisvoller Anmut und unglaublicher Leichtigkeit entschwand, wobei sie in transitu die folgenden Worte sprach: ›Rette mich! – So rette mich doch! – Verliere keinen Augenblick, sonst bin ich verloren!‹ Und, Weib, ich schwöre Dir, daß ich, dieweil die Gestalt vor mir saß und auch in dem Moment ihres Aufbruchs, weder das Rascheln ihrer Kleider, noch das Geräusch ihrer Schritte, ja nicht einmal ihren Atem vernommen habe. Nur bei ihrem Hinausgang war da ein ziehender Hauch, als wehte ein Wind durch die Kammer, – auch lag’s wie ein Nebel über all den mich umgebenden Dingen, welcher sich jedoch alsbald zerstreute, und ich weiß eigentlich nur noch, daß ich einen tiefen Seufzer getan, so als wäre eine schwere Bürde von meiner Brust hinweggenommen worden. Danach saß ich noch eine Stunde lang wach und grübelte über dem, was ich da gesehen, nicht wissend, ob ich nun im Wachen geträumt oder im Träumen gewacht hatte.
    Da ich mit meinen fruchtlosen Überlegungen nicht zu Rande kam, begab ich mich zu Bett, wo ich mich noch lange Zeit schlaflos hin und her wälzte, bis ich, beim Morgengrauen in einen tiefen Schlummer gesunken, von einem Geräusch geweckt wurde, welches dem eines Zugwindes glich, der meine Bettvorhänge bewegte. Ich fuhr empor, zog die Vorhänge zur Seite und blickte um mich. Durch die Fensterläden drang schon die Morgendämmerung herein, doch hätte ihr Licht wohl kaum ausgereicht, mich die Gegenstände in meiner Kammer unterscheiden zu lassen, wäre da nicht die auf dem Kamin brennende Lampe gewesen, deren Schein zwar schwach, aber durchaus hinlänglich war. So konnte ich an der Tür eine Gestalt gewahren, in welcher mein durch das Entsetzen geschärfter Blick alsbald die nämliche erkannte, welche ich schon vor meinem Einschlafen gesehen. Sie winkte mir mit einer traurigen Handbewegung zu, wobei sie, schon im Entschwinden, in herzzerreißendem Ton die folgenden Worte sprach: ›Zu spät!‹ Und dieweil ich, wie ich Dir anvertrauen will, überwältigt von einem Schrecken, welcher mich aller Fähigkeiten beraubte, in meine Kissen zurücksank, schlug die Uhr die dritte Stunde.
    Donna Clara und ihr Gottesmann waren eben (beim zehnten Durchlesen des Briefes) an dieser Stelle angelangt, als die Standuhr im unten gelegenen Vorsaal die dritte Stunde schlug.
    ›Welch sonderbarer Zufall‹, sagte der Pater José. ›Wirklich bloß ein Zufall, hochwürdiger Vater?‹ fragte die zutiefst erbleichte Donna Clara.
    ›Ich weiß nicht recht‹, versetzte der Priester. ›Es sind so viele glaubhafte Geschichten von warnenden Zeichen überliefert, die unsere Schutzheiligen sogar mit Hilfe der unbeseelten Dinge gegeben haben. Zu welchem Zweck aber sollten wir gewarnt werden, da wir doch das Übel nicht kennen, vor dem wir uns in acht zu nehmen hätten?‹
    ›Still – so hört doch!‹ fiel ihm Donna Clara ins Wort. ›Habt Ihr kein Geräusch vernommen?‹
    ›Es ist nichts‹, sagte Pater José, nachdem er eine Weile, nicht ohne Anzeichen der Beunruhigung, gelauscht hatte. ›Es ist nichts‹, fügte er nach einer weiteren Weile hinzu, nun schon in ruhigerem und sichererem Ton. ›Und das Geräusch, welches ich vor etwa zwei Stunden tatsächlich gehört habe, war bloß von kurzer Dauer und hat sich seither nicht wiederholt.‹
    ›Wie stark die Kerzen flackern‹, sagte Donna Clara und betrachtete die Flammen mit vor Angst glasigem Blick.
    ›Die Fenster stehen offen‹, antwortete der Gottesmann.
    ›Aber das waren sie doch schon die ganze Zeit über, während wir hier saßen‹, versetzte Donna Clara. ›Dennoch, so seht doch nur, welch ein Luftzug sich da plötzlich bemerkbar macht! Allmächtiger! Nun flackern sie schon, als wollten sie verlöschen!‹
    Der Priester, zu den Wachslichten aufblickend und die Wahrheit solcher Worte erkennend, gewahrte im nämlichen Moment, daß auch der Wandteppich neben dem Eingang in beträchtliche Bewegung geraten war. »Irgendwo im Haus muß eine Tür

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