Melmoth der Wanderer
Zustand. ›Ich habe mir den Schlüssel dazu verschafft, auf welche Weise, tut jetzt nichts zur Sache. Jene Tür hat in früheren Zeiten zu den Grabgewölben des Klosters geführt, doch wurde aus gewissen, besonderen Gründen, die zu erörtern ich jetzt nicht die Zeit habe, ein anderer Zugang geschaffen, so daß der frühere seit Jahren nicht mehr benützt worden ist. Aus den Grabgewölben soll ein weiterer Gang abzweigen, welcher dem Hörensagen nach mittels einer Falltür in den Garten mündet. Sobald wir durch jene Falltür in den Garten gelangt sind (wenn wir das fertigbringen), so erwartet uns eine neue Gefahr. Zwei scharfe Hunde werden allnächtlich in dem Garten freigelassen – aber das muß in Kauf genommen werden. Die Mauer ist an die sechzehn Fuß hoch –, doch dein Bruder hat für eine Strickleiter gesorgt, welche er herüberwerfen wird, so daß du in Sicherheit auf diese Seite gelangen kannst.‹
›Sicherheit! Aber dann wird Juan in Gefahr sein!‹
›Das ist Sache deines Bruders‹, unterbrach mich mein Gefährte. ›Was an mir liegt, hab’ ich dann getan.‹
Doch ich gab nicht nach und stellte ihm noch mehrere Fragen in Ansehung der Einzelheiten meiner Flucht. Seine Antworten blieben jedoch einförmig und unbefriedigend, ja in einem Grad ausweichend, daß ich zunächst erneut von Argwohn, dann aber von Schrecken erfüllt wurde. So fragte ich: ›Aber wie bist du in den Besitz des Schlüssels gekommen?‹
›Dies zu fragen ist nicht deine Sache.‹
Es war sonderbar, daß er diese Antwort stets dann gab, wenn ich ihn nach der Art und Weise fragte, auf welche er sich die Mittel zur Erleichterung meiner Flucht verschafft hätte. So mußte ich denn unbefriedigt davon ablassen und mich auf das beschränken, was er mir von sich aus mitgeteilt hatte. – ›Was aber‹, so fragte ich, ›hat es mit jenem schrecklichen Gang bei den Grabgewölben auf sich? Wie, wenn wir nimmer ans Licht gelangen? Bedenke doch, das Umherirren inmitten verfallender Grüfte, das Stolpern über herumliegende Totengebeine, die unbeschreiblichen Begegnungen, denen wir ausgesetzt sein könnten – den Aufenthalt zwischen Wesen, die weder lebendig noch tot sind –, denk an all jene düstern und schattenlosen Phantome, welche sich zwischen den Überresten der Toten tummeln, ja sich mit denselben belustigen und inmitten der Verwesung schmausen und ihrer Liebe obliegen – gespenstig, höhnisch und von grausiger Erscheinung. Müssen wir denn dieses Grabgewölbe betreten?‹
›Was tut’s? Vielleicht habe ich mehr Grund, all das zu fürchten, als du. Oder erwartest du , den Geist deines Vaters sich aus der Erde erheben zu sehen, auf daß er dich zermalmte?‹ Diese Worte, welche er in der Absicht äußerte, mir Vertrauen einzuflößen, machten mich vor Entsetzen erzittern, weil sie von einem Vatermörder kamen, welcher sich seines Verbrechens zur Mitternacht in einem Gotteshaus rühmte, inmitten all der Bildnisse von Heiligen, welche zwar dazu schwiegen, doch nicht minder zu erschauern schienen als ich. Um auf andere Dinge zu kommen, sprach ich von der unübersteigbaren Mauer sowie von der Schwierigkeit, an ihr die Strickleiter zu befestigen, ohne dabei entdeckt zu werden. Und abermals erhielt ich jene ausweichende Antwort: ›Laß das meine Sorge sein, – es ist alles vorbereitet.‹
Unsere Absprache war nahezu beendet, als mir der Gedanke kam, daß dieser Mensch sich der Gefahr in einem Grad aussetzte, welcher in Ansehung bloß meiner Person fast unglaublich erschien. Dieses Rätsel mußte ich wenigstens lösen. So fragte ich ihn: ›Was aber wirst du für deine eigene Sicherheit tun? Was soll aus dir werden, sobald meine Flucht erst offenbar ist? Würde nicht der bloße Verdacht, daß du deine Hand dabei im Spiele gehabt, ausreichen, dir die schwerste Bestrafung einzutragen? Und was wird erst das Ergebnis sein, wenn solcher Verdacht zur unwiderleglichen Gewißheit geworden ist?‹
›Hältst du mich wirklich für solch einen Tölpel, daß du glaubst, ich betriebe deine Flucht auf die Gefahr meiner lebenslänglichen Einkerkerung hin? Vielleicht würden sie mich sogar einmauern oder der Inquisition überantworten! Oh nein, wir müssen schon gemeinsam fliehen!‹
Den folgenden Tag vermag ich nicht anders zu beschreiben denn als einen Traum, den man in seine einzelnen Bestandteile zerlegt: in seinen gesunden Teil, in die Wahnvorstellungen, in das, wovor unser Gedächtnis versagt und in die Bilder eines vermeintlichen
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