Melmoth der Wanderer
Triumphes. Den ganzen Tag lang kam ich mir wie jemand vor, der an einem Glockenstrang zieht und stets die zwei gleichbleibenden Klänge vernimmt: Himmel – und Hölle, Himmel – und Hölle. Und solcher Zweiklang tönte mir in den Ohren mit all der todestraurigen und unablässigen Monotonie der Klosterglocke. Dann brach endlich die Nacht herein. So stahl ich mich denn aus meiner Zelle und schlich zur Kirche hinunter. Dies war nicht ungewöhnlich für die, deren Seelenruhe oder deren Nerven durch die schlaflose Düsternis einer klösterlichen Nacht aufgestört waren.
Während ich mich dem Eingang zur Kirche näherte, in welcher die Lampen niemals gelöscht wurden, vernahm ich ein Stimmengemurmel. Erschrocken retirierte ich mich. Dann wagte ich aber doch, einen Blick in die Kirche zu werfen, und gewahrte einen bejahrten Mönch, welcher vor der Statue eines Heiligen im Gebet lag. Dies Gebet war aber nicht auf die Erlösung aus Gewissensqualen oder die Befreiung von dem Mönchstum gerichtet, sondern auf die Heilung ganz gewöhnlicher Zahnschmerzen, denn man hatte ihm geraten, er möge sein Zahnfleisch mit dem Standbild jenes Heiligen in Berührung bringen, dessen wirksame Fürbitte in solchen Fällen notorisch war. Und so betete der arme, alte, gemarterte Tropf, betete mit aller Inbrunst seiner körperlichen Pein, und rieb dabei sein Zahnfleisch wieder und wieder an dem harten Marmor, welcher mit seiner Kälte die Schmerzen, die dadurch ausgelösten Klagen und damit auch die Frömmigkeit steigerte.
Die Glocke schlug zwei, und ich verging beinahe vor Ungeduld und stampfte, so laut ich es wagen durfte, gegen den Steinboden des Ganges. Auch die sichtliche Ungeduld meines Gefährten trug ja nicht zu meiner Beruhigung bei, wie er von Zeit zu Zeit hinter dem Pfeiler, wo er sich postiert hatte, hervortrat, um mir einen Blick – und welch einen ungestüm fordernden Blick! – zuzuwerfen (welchen ich bloß mit dem Ausdruck verzweifelter Mutlosigkeit zu erwidern vermochte). Schließlich tat ich einen Schritt der Verzweiflung. Ich betrat die Kirche, schritt geradewegs zum Altar und warf mich vor dessen Stufen zu Boden. Dabei ließ der alte Mönch mich nicht aus den Augen. Er glaubte wohl, ich wäre zu demselben Zweck, wenn nicht gar mit den gleichen Empfindungen wie er hierhergekommen. So trat er zu mir und zeigte mir auf diese Weise seine Absicht, die eigenen Seufzer mit den meinen zu vereinigen, wobei er mir seine Teilnahme bekundete, indem er sagte, die Schmerzen hätten nunmehr vom Unterkiefer auch auf den oberen übergegriffen. In diesem Zusammentreffen der niedrigsten mit den höchsten Lebensinteressen lag etwas, das ich kaum zu schildern vermag. Doch war jetzt nicht die Zeit zur Gewissenserforschung. So kniete ich denn und betete, bis der arme Dulder, endlich seines unwirksamen und keiner Antwort gewürdigten Flehens müde, sich erhob und langsam aus der Kirche schlurfte.
Einige Minuten lang erbebte ich in der schrecklichen Befürchtung, ein weiterer Störenfried könnte plötzlich auftauchen, doch stellte der feste Schritt, welcher sich mir jetzt durch das Kirchenschiff nahte, meine Zuversicht augenblicks wieder her. Es war mein Gefährte, der da herankam. Jetzt stand er neben mir. Er stieß einige Flüche hervor, die mir schrecklich genug in den Ohren klangen, doch nicht so sehr um ihres Wortlauts willen, als wegen des Gewandes, welches ich trug, und des Ortes halber, an dem ich mich befand. Danach begab mein Helfer sich eilig zu der bewußten Tür . Schon hatte er den großen Schlüsselbund zur Hand, und ich folgte aus einem kreatürlichen Antrieb solchem Unterpfand meiner künftigen Freiheit.
Die Tür lag ziemlich tief, wir mußten vier Stufen zu ihr hinabsteigen. Mein Gefährte schob den Schlüssel ins Schloß, wobei er denselben mit dem Kuttenärmel umwickelte, um alles unnötige Geräusch zu vermeiden. Bei jedem vergeblichen Versuch knirschte er mit den Zähnen, stampfte gegen den Boden und nahm schließlich beide Hände zu Hilfe. Doch das Schloß gab nicht nach, und so schlug ich meine Hände in Verzweiflung zusammen und rang sie über meinem Haupt. ›Bring mir ein Licht‹, flüsterte er mir zu. ›Nimm einer von den Figuren da drüben ihre Ölfunzel weg!‹
Die Leichtfertigkeit, mit der von jenen heiligen Bildwerken sprach, machte mich schaudern, und meine Handlungsweise schien mir nichts anderes als ein Sakrileg zu sein. Dennoch tat ich wie mir geheißen, ging hin und holte eine Lampe, welche ich ihm mit
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