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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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zu erwähnen wagten. So redeten sie hin und her, stellten Erwägungen an und – denn die Not ist erfinderisch genug, sich vor sich selbst zu verbergen – versicherten zuletzt einander, wie unmöglich es doch sei, daß der Pater Superior sie hier eingeschlossen haben sollte, um sie Hungers sterben zu lassen. Dies gehört, konnte ich mir ein Gelächter nicht verkneifen.
    Am zweiten Tag brachte Hunger und Finsternis ihre übliche Wirkung hervor. Das Pärchen schrie gellend nach Befreiung und trommelte lange Zeit und aus Leibeskräften gegen die Tür seines Kerkers. Sie wollten, so riefen sie aus, jede erdenkliche Strafe gern auf sich nehmen. Sie waren so weit, das Erscheinen der Mönche, welches sie die voraufgegangene Nacht noch so gefürchtet hatten, auf den Knien herbeizuflehen. Dann, als die Qualen des Hungers sich verstärkten, ließen sie von der Tür ab und krochen davon, jeder in seine Ecke. Jeder für sich! – Ach, wie ich darauf lauschte! So rasch war einer des andern Feind geworden – oh, welch ein Labsal für mich! Nun konnten sie nicht länger die abstoßenden Einzelheiten ihres körperlichen Zustandes voreinander verbergen. Ja, es sind doch sehr verschiedene Dinge für zwei Liebesleute, sich zu einem opulenten Festmahl niederzusetzen, oder aber in der Finsternis Hunger leiden zu müssen, und einen Appetit, welcher der Leckerbissen und Schmeicheleien nimmer entraten mag, gegen einen einzutauschen, der noch die herabgestiegene Liebesgöttin gegen einen einzigen Bissen Brot in Tausch geben würde. In der dritten Nacht – wie soll ich dir’s nur sagen? –, allein du wolltest es ja hören. Sie hatten nun all die entsetzlichen und abscheulichen Qualen des Verhungerns durchlitten. Die Auflösung aller Herzensbindung, aller Zuneigung, ja allen natürlichen Empfindens hatte eingesetzt. Und in den Martern ihres Hungerelends verabscheute einer den andern – sie hätten einander verfluchen mögen, wäre ihnen dazu noch Atem genug verblieben. Und es war in der vierten Nacht, daß ich den Aufschrei des unseligen Weibes vernahm: ihr Liebhaber hatte, in der ganzen bewußtlosen Qual seines Hungers, seine Zähne in ihre Schulter geschlagen, – der weiche Busen, daran er sooft geschwelgt, wurde ihm nun zum Fraße.‹
    ›Du Ausgeburt! Du lachst darüber?‹
    ›Ja wohl, ich lache über diese Menschheit, ich lache über ihre schale Heuchelei, mit der sie es wagt, ihr Herz zur Schau zu stellen! Ich lache über ihre Leiden, ihre Sorgen! Die Tugend und das Laster sind mir eins, die Religion ist mir ein Gelächter so gut wie alle Ehrfurchtslosigkeit! Was ist all das denn anderes als die Folge von nichtigem Standpunkt, künstlichem Gehaben! Ein ernster Mangel, eine harte Lehre, geäußert von dem zahnlos bleichen Mund der Not, er wiegt die ganze Logik auf, die diese leeren Wichte nachgeplappert von Zeno bis zu Burgersdicius! Ach – wie sie da im Augenblick verstummen: die dürftige Sophisterei des Bürgers so gut wie jene des Asketentums! Dies Liebespaar, von dem ich dir berichte, es hätte nimmermehr daran geglaubt – und wär› die Welt vor ihm ins Knie gesunken, und hätten Engel es der Welt bezeugt –, daß einer je vom anderen lassen könnte! Sie hatten selbst das Äußerste gewagt, mit Füßen Gott, ja noch die Welt getreten, nur, um einander immer nah zu sein. Und eine Stunde Hunger hat genügt, um sie aufs radikalste zu ernüchtern! Ein Mangel, so alltäglich wie natürlich, hat ausgereicht, dies feste Band zu sprengen!
    Meine Geschichte geht nun ihrem Ende zu, und, wie ich hoffe, auch dieser Tag. Als ich das letzte Mal hier gewesen bin, hatte ich etwas, an dem ich mich erbauen konnte. – Von solchen Dingen bloß zu reden, ist ein armseliges Geschäft für einen, der ihnen als ein Zeuge beigewohnt hat. Nun, erst am sechsten Tag blieb alles still. So wurde das Tor aufgesprengt, wir traten ein, – es lebte keiner mehr. Sie lagen weit voneinander, viel weiter denn auf jenem Lustpfuhle, zu welchem ihre Leidenschaft das Geflecht eines Klosterbettes gewandelt hatte. Sie lag zu einem Bündel zusammengekrümmt und hatte sich in eine Strähne ihres langen Haars verbissen. Ihre Schulter wies eine unbedeutende Bißwunde auf – mehr Unbill hatte ihr der Hungerwahn des toten Bräutigams nicht zugefügt. Der lag in voller Länge ausgestreckt, die Hand zwischen den Zähnen. Es schien, als hätte er nicht mehr die Kraft gehabt, die Absicht auszuführen, die solche Stellung uns verriet. Man schaffte die Entseelten zur

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