Melmoth der Wanderer
teuerster Senor, daß alle jene Erzählungen über den geheimen Strafvollzug der Heiligen Inquisition, die allgemein im Umlauf sind, in neun von zehn Fällen jeglicher Grundlage entbehren, weil ja die Gefangenen durch einen Eid gehalten sind, niemals von dem Gebrauch zu machen, was hinter den Kerkermauern sich zugetragen hat. Jene aber, welche imstande sind, solchen Eid zu verletzen, wie sollten sie vor der Lüge haltmachen? Ich selbst fühle mich freilich durch jenen Eid, niemals die näheren Umstände meiner Gefangenschaft und meiner Befragung zu enthüllen, für alle Zeit gebunden. Es steht mir jedoch frei, gewisse Grundprinzipien, welche beides betreffen, im Zusammenhang mit meiner außergewöhnlichen Geschichte zu erwähnen. Nun, meine erste Vernehmung fand einen recht günstigen Ausgang. Meine halsstarrige Ablehnung des mönchischen Lebens wurde zwar beklagt und getadelt, doch gab es sonst keinerlei versteckte Andeutungen, mit einem Wort nichts, was die besonderen Befürchtungen eines Gefangenen der Heiligen Inquisition hätte aufrühren können. So war ich in dem Maße zufrieden, wie man es in solcher Einsamkeit und Düsternis, auf Stroh gebettet und bei Wasser und Brot eben sein kann, und dies bis zu der vierten Nacht, welche auf meine Befragung folgte. In jener Nacht nämlich wurde ich durch ein Licht geweckt, welches mich so sehr irritierte, daß ich mit einem Ruck aus dem Schlummer fuhr. Der mir dies Licht vor Augen hielt, zog sich indes alsbald zurück, und ich erblickte seine Gestalt in der entferntesten Ecke meiner Zelle.
Zwar war ich voll der Freude über den Anblick eines menschlichen Wesens, doch hatte ich von den Gepflogenheiten der Heiligen Inquisition schon so viel angenommen, daß ich mit kalter, gebieterischer Stimme fragte, wer es denn da wage, in die Zelle eines Gefangenen einzudringen? Der so Angeredete antwortete mir in den schmeichlerischsten Tönen, welche je das Ohr eines Menschen beschwichtigt haben, er wäre, ganz wie ich selbst, ein Gefangener der Heiligen Inquisition. Doch sei ihm gestattet worden, mich zu besuchen, und so hoffe er ...
›Ist es denn angebracht, des Wortes Hoffnung an diesem Ort Erwähnung zu tun?‹ Das auszurufen, hatte ich mich nicht enthalten können.
Seine Antwort kam in dem nämlichen, bittend-beschwichtigenden Ton und deutete, ohne näher auf unsere besondere Lage einzugehen, die tröstlichen Möglichkeiten an, welche zwei Dulder, denen die Vergünstigung des persönlichen Verkehrs zuteil geworden, aus solchem Umstand ziehen könnten.
Jener Mensch kam mehrere Nächte hintereinander in meine Zelle, und es fielen mir dabei fast wider Willen drei sonderbare Dinge auf, welche seinen Besuchen und seiner Erscheinung anhafteten.
Das erste war, daß er beständig (wenn er es so einrichten konnte) seine Augen vor mir verbarg. War er aber bisweilen gezwungen, dieselben auf mich zu heften, oder passierte ihm dies versehentlich , so hatte ich das Gefühl, noch niemals zuvor so flammende Augen im Antlitz eines Sterblichen gesehen zu haben, und beschirmte die meinen in der Düsternis meines Kerkers mit der Hand, um mich gegen so durchbohrende Sehkraft zu schützen. – Zweitens war es sonderbar, daß dieser Besucher meine Zelle betrat und auch wieder verließ, ohne dazu, so hatte es den Anschein, irgendwelcher Hilfe zu bedürfen. Auch schien er von niemandem daran gehindert zu werden. Er kam und ging, als trüge er den Schlüssel zu meiner Kerkertür bei sich, und dies zu jeder Stunde, ohne Erlaubnis und ohne Verbot, ganz wie jemand, der über einen Hauptschlüssel verfügte, welcher auch in die geheimsten Türschlösser dieses Hauses paßte. – Drittens schließlich sprach er nicht nur mit klarer, vernehmlicher Stimme zu mir, welche sich von dem ewigen Inquisitionsgeflüster so gänzlich unterschied, sondern verlieh seinem Abscheu gegen dies ganze System, seiner Entrüstung über die Heilige Inquisition, über deren Inquisitoren und all deren Helfer und Helfershelfer – angefangen von Sankt Dominikus bis hinunter zu dem geringsten Offizial – mit solch hemmungslosen Schmähreden, solch haßerfüllt-beißendem Sarkasmus und solcher schrankenlos freimütigen, alles verlachenden und doch zersetzenden Schärfe Ausdruck, daß ich jedesmal darob erschauderte.
Mein Besucher liebte es, beständig auf Begebenheiten und Personen anzuspielen, welche außerhalb seiner möglichen, persönlichen Erinnerung liegen mußten. Danach zügelte er sich wieder, um gleich darauf
Weitere Kostenlose Bücher