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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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seien. Woraus der gerechtfertigte und naheliegende Schluß zu ziehen wäre, ich sei in der Tat ein Opfer des Bösen Feinds, in dessen Macht es stehe (und zwar durch die Langmut Gottes und des Heiligen Dominikus – bei deren Nennung der Sprecher sich bekreuzte), sogar in die Mauern des Heiligen Offiziums einzudringen. Und mein Besucher warnte mich mit ebenso ernsten wie eindringlichen Worten vor der Gefährlichkeit der Lage, in welche ich durch den allgemein und (wie er fürchte) nur zu berechtigt gegen mich erhobenen Verdacht geraten sei. Schließlich beschwor er mich bei meinem Seelenheil, ich möge doch mein ganzes Vertrauen auf die Barmherzigkeit des Heiligen Offiziums setzen und, sollte jene Gestalt sich abermals in meiner Zelle zeigen, auf jedes Wort merken, welches von ihren unkeuschen Lippen käme, um es dem Heiligen Offizium wahrheitsgetreu berichten zu können.
    Schon in der zweiten Nacht nach meinem Verhör sah ich jene Person wieder meine Zelle betreten. Mein erster Impuls war, lauthals nach den Offizialen der Heiligen Inquisition zu rufen. Ich fühlte mich auf unbeschreibliche Weise zwischen den Möglichkeiten hin und her gerissen, mich entweder der Gewalt der Heiligen Inquisition in die Arme zu stürzen, oder aber jenem außergewöhnlichen Wesen vor mir, das vielleicht noch furchtbarer war als alle Inquisitoren der Welt, von Madrid bis Goa zusammengenommen. Was der Fremde mir im Verlauf dieses zweiten Besuchs zu erzählen hatte, lautete etwa so: ›Du bist ein Gefangener der Inquisition. Dies Hochheilige Offizium ist unzweifelhaft in Ansehung von Zwecken ins Leben gerufen worden, welche so weise sind, daß sie die Fassungskraft von uns sündhaften Wesen bei weitem übersteigen. Indes, und soweit wir dies zu beurteilen vermögen, sind ihre Gefangenen all jener Segnungen, derer sie durch so weise Wachsamkeit teilhaftig werden könnten, nicht nur nicht inne, sondern auch noch voll des schändlichsten Undankes darüber. So bist du zum Beispiel dir, den man der Hexerei, des Brudermordes und auch der Schuld bezichtigt, eine glänzende und liebevolle Familie durch seine schandbare Aufführung in die Verzweiflung gestürzt zu haben, so daß man dich nun glücklicherweise mittels der ersprießlichen Festsetzung inmitten dieser Gefängnismauern aller Möglichkeiten beraubt hat, dich noch weiterhin gegen die Natur, die Religion und die Gesellschaft zu vergehen, – so bist, dies wage ich zu sagen, nicht einmal du dir all dieser Segnungen bewußt, so daß es dein heißester Wunsch ist, dich dem weiteren Genuß derselben zu entziehen. Mit einem Wort, ich bin überzeugt, daß dein geheimer Herzenswunsch (unbeirrt von all dem Übermaß an Nächstenliebe, welches das Heilige Offizium auf dich gehäuft) keineswegs darauf gerichtet ist, die Bürde deiner Dankbarkeit noch weiter zu vergrößern, sondern, ganz im Gegenteil, nur darauf abzielt, den Kummer, den jene hochwürdigen Personen angesichts der Beschmutzung ihrer geheiligten Wände durch deine Gegenwart empfinden müssen, nach Möglichkeit zu verkleinern, indem du die Dauer deines Aufenthalts schon zu einem Zeitpunkt beendest, der wesentlich früher anzusetzen ist, als das in den Absichten jener Männer liegt. Dein Wunsch ist es ganz einfach, aus dem Gefängnis des Heiligen Offiziums, wenn irgendmöglich, zu entweichen – du weißt, daß dies so ist.‹
    Ich ließ kein Sterbenswort verlauten. Ich war von Entsetzen erfüllt angesichts dieser wilden und ätzenden Ironie, von Entsetzen erfüllt bei der Erwähnung meiner Flucht (und dies Gefühl war ja nur zu begründet), von unbeschreiblichem Entsetzen erfüllt vor jedem Ding und jeder Person meiner Umgebung. Ich kam mir vor wie jemand, welcher auf einem schmalen Grat vorwärtsschwankt – einem Alaraf, zu dessen beiden Seiten sich die Abgründe des Höllischen Geistes und der Heiligen Inquisition (dieser nicht minder drohend denn jener) auftaten, um mich zu verschlingen. So preßte ich die Lippen aufeinander und wagte nicht einmal zu atmen.
    ›In Ansehung deines Entkommens‹, so fuhr der Sprecher fort, ›welches ich dir zwar garantieren kann (und welches keine menschliche Macht dir garantieren könnte), mußt du dir freilich über die Schwierigkeiten klar sein, die damit verbunden sein werden. Wie entsetzenerregend diese Schwierigkeiten auch sein mögen, – würdest du zögern?‹ Ich schwieg noch immer, und mein Besucher mochte dies für den Ausdruck des Zweifels halten, denn er fuhr fort: ›Mag sein, du

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