Melodie der Leidenschaft
erfüllte. Dann war tiefes Donnergrollen zu hören.
„Ich … ich mag keine Gewitter“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Als ich klein war, wurde einer der Gärtner auf Stafford Hall von einem Blitz getötet und trieb angeblich als Geist sein Unwesen.“
„Hattet ihr viel Personal?“, erkundigte er sich. „Ich habe Fotos von Stafford Hall gesehen. Es wirkt riesig.“
„Ist es auch.“ Ella dachte an die grauen Mauern, die steinernen Gesichter der Wasserspeier über dem Eingang. Als kleines Kind hatte sie Albträume davon bekommen. „Es hat siebzehn Schlafzimmer, unzählige Salons und andere Räume und eine Kapelle, in der angeblich vor mehreren Hundert Jahren ein Priester im Auftrag des Königs ermordet wurde. Als mein Vater das Anwesen erbte, gab es ein kleines Heer von Köchinnen, Butlern und Hausmädchen. Aber als ihm das Geld ausging, hat er nach und nach das Personal entlassen, bis nur noch Mrs Rogers da war, die Haushälterin. Sie war schon uralt“, erinnerte Ella sich. „Aber sie kümmerte sich mit um meine Mutter. Und da mein Vater mit Mum möglichst wenig zu tun haben wollte, durfte ihre geliebte Betty bleiben.“
Wieder donnerte es, diesmal so laut, dass das Grollen von den Wänden hallte.
„Hast du an die Sache mit den Geistern geglaubt?“, fragte Nicolaj, der Ellas Anspannung angesichts des näherziehenden Gewitters spürte.
Sie nickte. „Ja, ich hatte eine blühende Fantasie und verbrachte viel Zeit allein, weil es meiner Mutter oft nicht gut ging. Ich war überzeugt, dass die Geschichten vom kopflosen Baron und der grauen Lady stimmten, die angeblich von ihrem Mann erstochen worden war – im obersten Zimmer des Turms. Das Personal weigerte sich, es zu betreten.“ Nach kurzem Zögern fügte sie leise hinzu: „Mein Vater hat mich dort immer zur Strafe eingesperrt, wenn ich etwas angestellt hatte. Und da er schon gereizt war, wenn ich im selben Zimmer war wie er, wurde ich ziemlich oft bestraft.“
„Wusste er von deiner Angst?“
„Natürlich“, sagte Ella bitter. „Ich wurde ja immer panisch, wenn er mich nach dort oben zerrte. Genau deshalb tat er es ja. Raffinierte Grausamkeit war seine besondere Stärke.“
Als Nicolaj sich das verängstigte kleine Mädchen vorstellte, rührte sich ein unbestimmbares Gefühl in seinem Herzen. „Hat er dich auch geschlagen?“, fragte er rau.
In diesem Moment donnerte es erneut. Ella zuckte zusammen und betrachtete den dunklen Himmel, der einen tiefschwarzen Mantel über den Garten zu breiten schien. „Nein, mich nicht“, antwortete sie langsam. „Aber meine Mutter hatte oft blaue Flecke und behauptete, sie habe sich gestoßen oder sei die Treppe hinuntergefallen. Zum Glück war mein Vater meistens in seinem Haus in Frankreich. Er kam immer nur nach Stafford Hall, wenn er Geld brauchte und ein weiteres Stück aus dem Familienerbe verkaufen musste. Ich war immer sehr froh, wenn er wieder weg war.“
„Wenn er deine Mutter so schlecht behandelte, warum ist sie dann bei ihm geblieben?“
Das hatte auch Ella sich unzählige Male gefragt. „Ich vermute, weil sie ihn geliebt hat. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich auf den ersten Blick in meinen Vater verliebt hat. Und was immer er auch tat, so oft er ihr mit seiner Untreue auch das Herz brach – sie hat nie aufgehört, ihn zu lieben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Mutter war so lieb und sanftmütig. Ich verstehe einfach nicht, warum mein Vater ihre Gefühle nicht erwiderte.“
„Vielleicht konnte er es nicht.“ Ohne etwas zu sehen, blickte Nicolaj starr nach draußen in den Garten, während die altbekannte Schuld wieder in ihm wach wurde.
Auch Irina war sanftmütig gewesen. Ihr liebes, schüchternes Lächeln war ihm als Erstes aufgefallen, als er in den Lebensmittelladen gekommen war, in dem sie gearbeitet hatte. Natürlich hatte er sie geliebt. Allerdings nicht genug – das war die schmerzliche Wahrheit. Ihr ganzes Leben hatte sich um ihn gedreht, doch andersrum war das nicht der Fall gewesen, wie er sich eingestehen musste. Dafür hatten sein Unternehmen und das Vorantreiben seiner Karriere einen zu hohen Stellenwert gehabt. Betrogen hatte er seine Frau nicht, aber er hatte viel zu wenig Zeit mit Irina und Klara verbracht.
„Er hat sie nicht geliebt, weil er ein Egoist war und sich nur für sich selbst interessierte“, sagte Ella bitter und schauderte. „Ich möchte nie wie meine Mutter einen Mann so sehr lieben, dass ich meinen ganzen Stolz aufgebe. Diese
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