Melodie der Leidenschaft
hatte das Gefühl, ein Dolch würde sich ihm ins Herz bohren. Nein, er hatte nicht gut auf seine kleine Tochter und seine Frau aufgepasst. Er nahm Lilys Puppe in die Hand, die goldblonde Locken hatte und ein wunderschönes Kleid trug. Klaras Flickenpuppe hatte Haare aus brauner Wolle gehabt, und Irina hatte sie unzählige Male sorgfältig repariert.
„Wenn die Geschäfte besser laufen, kaufe ich Klara eine neue Puppe“, hatte er zu ihr gesagt.
„Aber sie hängt an dieser.“ Irina hatte ihn betrübt angesehen. „Und mehr als über eine neue Puppe würde sie sich freuen, wenn sie ihren Vater öfter sehen würde.“
Dass Nicolaj nicht auf sie gehört hatte, würde er sich ewig vorwerfen.
„Ich habe Tracy zum Geburtstag bekommen.“ Lilys Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart.
„Sie ist wirklich sehr hübsch“, sagte Nicolaj. „Wie alt bist du denn geworden, Lily?“
„Fünf!“
Wieder verspürte er tiefen Schmerz, so heftig, dass ihm der Atem stockte. Auch Klara war erst fünf Jahre alt gewesen. Sie hätte noch viel länger in dieser Welt bleiben sollen, dachte er. Stattdessen war sie unter Tonnen von Schnee begraben worden, die von den Bergen herabgedonnert waren und Irinas Heimatdorf fast vollständig zerstört hatten. Zehn Jahre war es her, dass Nicolajs Frau und seine kleine Tochter durch eine Lawine ums Leben gekommen waren. Mit der Zeit hatte Nicolaj gelernt, mit seinem Schmerz und seiner Trauer umzugehen. Doch die alte Flickenpuppe, die ihn auf jede Geschäftsreise begleitete, erinnerte ihn an die einzigen beiden Menschen, die er je geliebt hatte.
6. KAPITEL
„Jetzt sollten wir Sie wohl in Ruhe lassen, damit Sie sich eingewöhnen können, Nicolaj“, sagte Rex Portman. „Eigentlich haben Sie auch schon alles gesehen, außer dem Gartenhaus unten am Fluss. Wenn Sie noch etwas wissen möchten, kann Ella Ihnen sicher helfen. Sie hat Kingfisher House übrigens auch größtenteils eingerichtet – sehr gekonnt, wie ich finde.“
„Das Haus ist wirklich schön.“ Nicolaj setzte sich die Sonnenbrille wieder auf. Man sollte ihm nicht ansehen, wie ihn die Geister der Vergangenheit quälten.
„Hier sind übrigens Fotos von dem Neuankömmling.“ Rex reichte Ella Bilder von seinem Enkel. „Ein hübscher kleiner Kerl, was? Steph meint, er würde mir ähnlich sehen.“
Ella betrachtete erst das rote, runde Gesicht und den kahlen Kopf des Neugeborenen, dann die Glatze ihres Onkels. Sie gab zu, dass tatsächlich eine starke Ähnlichkeit bestand. „Wirklich süß“, sagte sie leise – und wurde plötzlich von heftiger Sehnsucht erfasst.
„Du wirst sicher auch bald Kinder bekommen“, meinte Rex.
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Sicher nicht. Ich bin nämlich der Meinung, dass Kinder bei zwei Elternteilen aufwachsen sollten, die wirklich zueinanderstehen. Und da ich nicht heiraten will, werde ich mich eben damit begnügen müssen, eine gute Patentante zu sein.“
Ich habe Kinder ja gerne, dachte sie. Und Lily liebte sie über alles. Aber die Musik und ihre Karriere nahmen so viel Zeit in Anspruch. Es war doch egoistisch, ein Kind zu bekommen, wenn man fünf oder sechs Stunden am Tag mit Üben verbrachte.
„Na ja, du hast ja noch genug Zeit, einen netten Kerl zu finden und es dir anders zu überlegen“, meinte Onkel Rex gut gelaunt.
Nein, dachte Ella. Zugegeben, nicht alle Ehen waren unglücklich: Rex und die Schwester ihrer Mutter, Lorna, waren seit dreißig Jahren glücklich verheiratet. Aber sie waren die Ausnahme. Ella hatte viele Freunde, deren Eltern geschieden waren. Und so etwas wollte sie weder sich noch einem Kind antun.
Aber was will ich dann? grübelte Ella nachmittags. Bisher hatte die Musik ihr Leben bestimmt. An Männer hatte sie kaum einen Gedanken verschwendet. Das alles war anders, seit sie Nicolaj kennengelernt hatte. Seither drängte er sich viel zu oft in ihre Gedanken. Und wenn er sie küsste und berührte … Schnell verdrängte Ella die erotischen Bilder von ihm und sich, nackt aneinandergeschmiegt, die vor ihrem inneren Auge auftauchten.
Plötzlich herrschten Chaos und Aufruhr in ihrem Leben, das bisher in sehr ruhigen Bahnen verlaufen war. Ella konnte nicht auf Kingfisher House bleiben, wenn Nicolaj in ihrer unmittelbaren Nähe wohnte. Doch bis sie ein anderes Apartment fände, hatte sie keine Wahl.
Sie beschloss, sich mit Musik abzulenken. Sobald sie mit dem Bogen über die Saiten der Geige strich, breitete sich ein friedliches Gefühl in ihr aus. In
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