Melodie der Liebe
wären sie quitt gewesen.
„Kommen Sie mir nie wieder nahe“, sagte sie schwer atmend. „Ich warne Sie. Wenn Sie es doch tun, weiß ich nicht, was ich sage und wer es hört. Wenn da nicht Ihr kleines Mädchen wäre …“ Sie brach ab und bückte sich nach ihren Sachen. „Ein so wunderbares Kind verdienen Sie gar nicht.“
Er ließ ihren Arm los, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie erstarren. „Sie haben Recht. Ich habe Freddie nie verdient und werde es wahrscheinlichauch nie tun, aber sie hat nur mich. Ihre Mutter – meine Frau – ist vor drei Jahren gestorben.“
Mit raschen Schritten ging er davon, tauchte in den Schein einer Straßenlaterne ein, verschwand dann in der Dunkelheit. Natasha setzte sich erschöpft auf die Stufen.
Was sollte sie jetzt tun?
Ihr blieb keine andere Wahl. So ungern sie ihn auch beschritt, es gab nur den einen Weg. Natasha rieb sich die Handflächen an der Khakihose ab und ging die frisch gestrichenen Holzstufen hinauf.
Ein schönes Haus, dachte sie, um Zeit zu gewinnen. Sie war schon so oft daran vorbeigekommen, dass sie es gar nicht mehr wahrnahm. Es war eins jener robusten alten Backsteinhäuser, die abseits der Straße hinter Bäumen und Hecken lagen.
Die Sommerblumen waren noch nicht verblüht, und schon meldeten sich ihre herbstlichen Nachfolger. Prächtige Rittersporne rivalisierten mit würzig duftendem Hopfen, leuchtende Gladiolen mit strahlenden Astern. Jemand pflegte sie. Auf den Beeten sah sie frischen Mulch, der nach der Wässerung noch dampfte.
Sie gab sich eine weitere Gnadenfrist und betrachtete das Haus. Vor den Fenstern hingen Gardinenaus hauchdünnem, elfenbeinfarbenem Stoff, der die Sonne hereinließ. Weiter oben entdeckte sie ein lustiges Muster aus Einhörnern. Das musste das Zimmer eines kleinen Mädchens sein.
Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen und überquerte die Veranda. Es wird schnell gehen, sagte sie sich, als sie an die Tür klopfte. Nicht schmerzlos, aber schnell.
Die Frau, die ihr öffnete, war gedrungen, ihr Gesicht so braun und faltig wie eine Rosine. Natasha blickte in ein Paar dunkler Augen, während die Haushälterin sich schon die Hände an der stark beanspruchten Schürze abwischte.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich würde gern Dr. Kimball sprechen.“ Sie lächelte, dabei kam sie sich vor, als stelle sie sich selbst an den Pranger. „Ich bin Natasha Stanislaski.“ Ihr entging keineswegs, wie sich die kleinen Augen der Haushälterin merklich verengten, bis sie fast zwischen den Falten verschwanden.
Vera hatte Natasha zunächst für eine der Studentinnen des Señors gehalten und sie abwimmeln wollen. „Ihnen gehört der Spielzeugladen in der Stadt.“
„Das stimmt.“
„Ach so.“ Mit einem Nicken hielt sie Natasha die Tür auf. „Freddie meint, Sie seien eine sehr nette Lady, die ihr ein blaues Band für die Puppe gegeben hat. Ich musste ihr versprechen, mit ihrwieder hinzugehen. Aber nur, um zu gucken.“ Sie machte eine einladende Handbewegung.
Während sie durch die Halle gingen, hörte Natasha die tastenden Töne eines Flügels. Sie entdeckte sich in einem alten ovalen Spiegel und war überrascht, sich lächeln zu sehen.
Spence saß mit dem Kind auf dem Schoß am Flügel und sah ihr über den Kopf hinweg zu, wie sie langsam und konzentriert dem Instrument die Melodie von „Mary Had a Little Lamb“ entlockte. Durch die Fenster hinter ihnen strömte das Sonnenlicht herein. In diesem Moment wünschte sie sich, malen zu können. Wie sonst wäre er festzuhalten?
Alles war perfekt. Das Licht, die Schatten, die blassen Pastellfarben des Raums – alles verband sich zu einem meisterhaften Hintergrund. Die Haltung ihrer Köpfe, ihrer Körper war zu natürlich und ausdrucksvoll, um gestellt zu wirken. Das Mädchen war in Pink und Weiß gekleidet, die Schnürsenkel des einen Turnschuhs offen. Er hatte Sakko und Krawatte abgelegt und die Ärmel seines Oberhemds bis zu den Ellbogen aufgerollt.
Das Haar der Kleinen schimmerte zart, seines schien im Sonnenlicht zu glühen. Das Kind lehnte mit dem Rücken an der kräftigen Gestalt des Vaters, der Kopf ruhte unterhalb seines Schlüsselbeins. Ein leises Lächeln erhellte Freddies Gesicht. Und über allem lag der schlichte Rhythmus des Kinderliedes, das sie spielte.
Seine Hände lagen auf den Knien, die Finger klopften im Tandem mit dem antiken Metronom den Takt auf den Jeansstoff. Die Liebe, die Geduld, der Stolz waren nicht zu übersehen.
„Nein, bitte“, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher