Melodie der Liebe
hob eine Braue. „Nun, vielleicht wird er dich diskret mustern.“
„Ich werde mein bestes Benehmen an den Tag legen.“
„Dann kommst du mit?“
Er lehnte sich zurück, trank einen Schluck Kaffee und lächelte insgeheim. „Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen.“
10. KAPITEL
„F reddie saß auf dem Rücksitz, die Decke bis zum Kinn hochgezogen und ihre Raggedy Ann fest im Arm. Sie tat, als schliefe sie, denn sie wollte sich ihren Tagträumen hingeben. Sie tat es so gut, dass sie ab und zu wirklich in einen Halbschlaf fiel. Es war eine lange Fahrt von West Virginia nach New York, aber sie war viel zu aufgeregt, um sich zu langweilen.
Aus dem Autoradio drang leise Musik. Als Tochter ihres Vaters erkannte sie natürlich Mozart, aber sie war Kind genug, um sich einen Text zum Mitsingen zu wünschen. Vera hatten sie bereits bei ihrer Schwester in Manhattan abgesetzt. Die Haushälterin würde bis zum Sonntag dort bleiben. Jetzt lenkte Spence den großen Wagen durch den dichten Verkehr nach Brooklyn.
Freddie war zwar ein bisschen enttäuscht, dass sie nicht den Zug genommen hatten, aber im Auto gefiel es ihr auch gut. Sie liebte es, ihrem Vater und Natasha zuzuhören. Was genau sie sagten, war nicht wichtig. Der Klang ihrer Stimmen war genug.
Sie würde Natashas Familie kennen lernen und mit den Erwachsenen zusammen einen gewaltigen Truthahn essen. Vor Aufregung war Freddie fast übel. Truthahn mochte sie zwar nicht besonders, aber Natasha hatte ihr erzählt, dass es reichlichPreiselbeersoße und Succotash geben würde. Succotash hatte sie noch nie gegessen, aber da der Name lustig klang, würde es bestimmt toll schmecken. Selbst wenn es das nicht tat oder sogar eklig war, würde sie höflich sein und ihren Teller leeren. JoBeth hatte ihr erzählt, dass ihre Großmutter immer böse wurde, wenn JoBeth ihr Gemüse nicht aufaß, und Freddie wollte kein Risiko eingehen.
Sie hörte, wie Natashas Lachen mit dem ihres Vaters verschmolz, und lächelte zufrieden. In ihren Tagträumen waren sie bereits eine Familie. Statt Raggedy Ann hielt Freddie ihre kleine Schwester in den Armen, während sie durch die Nacht zum Haus der Großeltern fuhren.
Ihre kleine Schwester hieß Katie, und sie hatte dasselbe schwarze lockige Haar wie Natasha. Wenn Katie schrie, war Freddie die Einzige, die sie beruhigen konnte. Katie schlief in einer weißen Wiege in Freddies Zimmer, und Freddie deckte sie immer sorgfältig mit der pinkfarbenen Decke zu. Freddie wusste, dass Babys sich leicht erkälteten. Dann musste man ihnen Tropfen aus einem Fläschchen geben. Babys konnten sich nicht selbst die Nase putzen. Alle sagten, dass Katie ihre Medizin gern nahm, wenn Freddie sie ihr gab.
Freddie strahlte ihre Puppe an und zog sie fester an sich. „Wir fahren zu Großmutter“, flüsterte sie und ließ ihrer Fantasie freien Lauf.
Das Problem war nur, dass Freddie nicht wusste,ob die Leute, die sie zu ihren Großeltern machte, sie auch mögen würden. Nicht jeder mag Kinder, dachte sie. Vielleicht würden die Leute wollen, dass sie die ganze Zeit mit auf dem Schoß gefalteten Händen auf einem Stuhl saß. Tante Nina hatte Freddie erklärt, dass junge Damen so saßen. Freddie hasste es, eine junge Dame zu sein. Aber sie würde stundenlang so dasitzen müssen, die Erwachsenen nicht unterbrechen dürfen. Und schon gar nicht würde sie im Haus herumlaufen dürfen.
Wenn sie kleckerte oder etwas verschüttete, würden sie böse werden und die Stirn runzeln. Vielleicht wurden sie sogar laut schimpfen. So wie JoBeths Vater es immer tat. Vor allem dann, wenn JoBeths großer Bruder, der schon in der dritten Klasse war und es eigentlich besser wissen sollte, mit einem der Golfschläger seines Vaters die Steine im Hof traktierte. Einer der Steine war direkt durchs Küchenfenster gekracht.
Vielleicht würde sie ja auch ein Fenster zerbrechen. Dann würde Natasha ihren Daddy nicht heiraten und nicht bei ihnen wohnen. Sie würde keine Mutter und keine Schwester bekommen, und Daddy würde aufhören, nachts seine Musik zu spielen.
Die Vorstellung lähmte Freddie fast, und sie schrumpfte auf dem Sitz zusammen, als der Wagen seine Fahrt verlangsamte.
„Hier musst du abbiegen.“ Beim Anblick ihresheimatlichen Viertels wurde es Natasha warm ums Herz. „Die Straße halb hinunter, auf der linken Seite. Vielleicht findest du einen Parkplatz … Ja, da vorn.“ Gleich hinter dem uralten Pick-up ihres Vaters war Platz. Offenbar hatten die
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