Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
winzige Flamme dort unten in der Tiefe, und wir fahren alle zur Hölle.«
»Wieso seid Ihr Euch so sicher, daß es die Hölle sein wird, Krenze? Warum denn nicht das Paradies?«
»Seht uns doch an – in unserem Elend! Ekelhaftes Wetter auf dem Meer beraubt den Menschen seiner Würde und macht ihn zu einem Nichts. Wir passen nur noch in die Hölle.«
Also schweigt Peter Claire und fragt sich, nicht zum erstenmal, was er so weit weg von zu Hause tut und welche lebenden Seelen um ihn trauern würden, ja worin die Bilanz seines Lebens gesehen werden könnte, sollte er in diesem eiskalten Meer ertrinken. Er denkt an seine lieben Eltern, seinen Vater, den Pfarrer James Whittaker Claire, und seine Mutter Anne. Er stellt sich vor, wie sie über seinen Verlust weinen und im stillen beklagen, daß er so wenig mit seinem Leben angefangen, sich nur an ein Musikinstrument gebunden hat und in der Welt herumgewandert ist – so weit weg von der Kirche St. Benedict the Healer seines Vaters und dem reichgedeckten Tisch seiner Mutter –, auf der Suche nach neuen Harmonien und seltsamer Gesellschaft.
Er weiß, daß sie für seine Seele beten würden, fragt sich jedoch auch, um was für eine Seele. Er ist sein Leben lang ruhig, verschlossen und einsam gewesen. Als habe er auf den richtigen Augenblick gewartet, immer auf den richtigen Augenblick gewartet. Er hatte niemandem erzählt, worauf er hoffte und wovor er sich fürchtete, weil er wußte, daß das, wovor er sich fürchtete, und das, was er sich erhoffte, nicht die Dinge waren, die einmal eine Rolle spielen würden. Auf ihn wartete etwas anderes. Etwas, was er noch nicht sehen konnte. Doch war es schon in Sicht? Peter Claire beschließt, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, wenn oder falls er im Numedal-Gebirge ankommt. Darin will er sagen:
König Christian hat mich enger an sich gebunden, als ich erwartet hatte. Er hat aus Aberglauben gehandelt und nicht aus Zuneigung, auch nicht in Kenntnis dessen, wer ich wirklich bin. Ich scheine einfach den Engeln zu gleichen, wie er sie sich als Kind vorgestellt hat. Ich gestehe jedoch ein, daß mich das berührt hat und ich nun glaube – oder hoffe –, mir werde in Dänemark etwas sehr Wichtiges widerfahren.
Peter Claire beobachtet den König. Dieser macht nicht den Eindruck, seiner Würde beraubt zu sein. Im Gegenteil, seine schwere Gestalt scheint sich eine Wendigkeit angeeignet zu haben, die sie in Rosenborg nicht besaß. Und die Funktionsweise des Schiffs übt eine ständige Faszination auf ihn aus. Er bleibt nicht auf dem ruhigen Achterdeck, sondern wandert auf dem Vorder- und Hauptdeck umher, alles und jeden überprüfend. Minutenlang schaut er zu den Marssegeln hoch, wobei sein Blick auf den oben auf den Nocks verteilten Fähnrichen ruht – mit einem Ausdruck der Ehrfurcht, ja sogar des Neids, als könne in jenem Universum aus Himmel und Segel ein Augenblick der Erlösung von allen weltlichen Problemen gefunden werden.
»Oh, das ist ein wundervolles Schiff!« hört man ihn rufen, und im selben Augenblick kommt eine riesige Welle am Bug der Tre Kroner hochgeschossen, und das Wasser ergießt sich über das Dollbord, so daß der König auf dem Deck den Halt verliert. Ein paar Matrosen eilen ihm schwankend zu Hilfe und richten ihn auf. Er ist jedoch nicht verletzt und weigert sich, kaum daß er wieder auf den Beinen ist, in seine Kabine zu gehen. Er hält sich an den Wanten fest. Regen peitscht auf ihn nieder, und der Sturm schlägt ihm seine lange Locke wie eine Schlinge um den Hals. Doch alldem schenkt er nicht die geringste Beachtung. Sein Blick ist schon wieder zu den Männern hoch oben über ihm zurückgekehrt. Diese beginnen das Marssegel einzuholen, ihr luftiges Königreich Stück für Stück abzutragen. Als sie schließlich heruntergeklettert kommen – einige der Knaben sind höchstens zwölf Jahre alt –, streckt ihnen König Christian mit einer bewundernden Geste die Hand entgegen. Sein Blick wandert über die Stelle am Himmel, wo das Marssegel wehte und nun Regenwolken heranfegen und sich auftürmen.
Bei Einbruch der Nacht flaut der Sturm ab. Ein leichter Wind aus Südwest sichert noch das Vorwärtskommen der Tre Kroner , doch das Meer ist ruhiger, und über dem Schiff gleitet eine schmale Mondsichel ins Blickfeld, als die Wolken Richtung Norden davonjagen.
Peter Claire und Krenze sind endlich eingeschlafen, als sie einer von der Schiffsmannschaft weckt und »auf Befehl Seiner Majestät« aufs Achterdeck
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