Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
herrscht, und die Männer folgen ihr immer voller Verlangen und neuem Verlangen: Berühr meine Stirn, Magdalena. Küß mich auf den Mund, Magdalena. Leck mir die Finger ab, Magdalena. Wickle mich in deine Röcke, Magdalena. Magdalena, komm mit mir zum See …
Es gibt jedoch eine Ausnahme. Marcus, der jüngste Knabe, das Kind, dem Emilia gesagt hat, es habe seine Mutter getötet, ist offenbar von Magdalenas Zauber unberührt. Marcus schreit, wenn sie ihn hochnimmt. Er weigert sich, sie zu küssen. Wenn er mal am Kuchenbacken teilnimmt, hält er die Hände auf dem Rücken, damit sie ihm nicht die Finger ableckt. Und er ist ungehorsam. All ihren Verboten zum Trotz läuft er allein vom Haus weg. Man hat ihm gesagt, daß Emilia nicht mehr da ist, daß sie in Kopenhagen ist, doch wenn er von seinen Wanderschaften zurückgebracht und gefragt wird, was er getan habe, antwortet er immer das gleiche. Er sagt, er habe nach Emilia Ausschau gehalten. Stets aufs neue wird ihm erklärt, daß Kopenhagen viele Meilen weit weg ist, weiter weg, als irgend jemand laufen kann, weiter weg als das Meer, weiter weg als der Nordstern, doch er hört nicht auf, nach ihr zu suchen.
Nachts weint Marcus. Oft macht er das Bett naß, was ihm dann keine betörende Berührung von Magdalenas Hand einbringt, wonach Ingmar sich so sehnt, sondern einen heftigen Schlag auf die Beine oder den Hintern. Mit vom Zimmer abgewandtem Gesicht liegt er in seinem feuchten Kinderbett. Er weigert sich bei den Mahlzeiten, mehr als ein paar Mundvoll zu essen oder sich auf seinen Unterricht zu konzentrieren. Er wird sehr dünn und bekommt Augenringe.
Marcus’ Widerspenstigkeit ärgert Magdalena. Warum muß es diesen traurigen kleinen Abweichler geben, wo sie doch mit ihrem unwiderstehlichen Geruch und ihrer drallen Bauernschönheit den ganzen Haushalt versklavt hat? Das ist unlogisch, was Magdalenas Wut noch steigert. Marcus ist das einzige Kind, das seine Mutter nicht kannte, und daher kann er Karen gegenüber keine Loyalität empfinden, doch gerade er stößt seine Stiefmutter zurück.
»Du mußt ein ernstes Wort mit ihm reden, Johann«, sagt Magdalena. »Wir können nicht dulden, daß sich ein Kind in diesem Haus weigert zu gedeihen.«
Also führt Johann (der alles tut, was Magdalena sagt) seinen jüngsten Sohn auf dessen braunem Pony langsam und vorsichtig auf den Wegen am Rand der Obstfelder entlang, und als sie zu einer Wiese kommen, hebt er ihn herunter, läßt das Pony weiden und setzt sich mit Marcus auf den Rand eines steinernen Wassertrogs, der noch immer eine dünne Eisschicht hat.
Johann blickt Marcus an und sieht in dessen kleinem, ernstem Gesicht den Geist seiner ersten Frau Karen, während die anderen Knaben mit ihren dunklen Haaren und derben Gesichtszügen Johann immer ähnlicher werden. Nur Emilia und Marcus gleichen Karen. Als Johann jetzt so auf dem Pferdetrog sitzt, wünschte er, sie täten es nicht.
»Also, Marcus«, sagt Johann, »paß auf!«
Der Knabe untersucht das Eis. Er sieht darin eingeschlossene Gegenstände: tote Blätter und kleine Stöcke.
»Paßt du auf?« fragt Johann.
»Ja«, erwidert Marcus. Doch er wendet den Blick nicht vom Eis.
»Nun denn«, seufzt Johann, »sag mir, was mit dir los ist!«
Er wartet, doch der Knabe antwortet nicht.
»Dein Weglaufen und Suchen nach Emilia. Du weißt, wie unartig und dumm das ist.«
Marcus schaut zu seinem Vater auf. Es ist ein sonniger Morgen, und er reibt sich die Augen, als schmerzten ihm diese vom Licht. Er schweigt.
»Verstehst du mich?« fragt Johann.
»Wo ist Kopenhagen?« fragt Marcus.
»Das haben wir dir doch gesagt: weit weg, auf der anderen Seite des Wassers. Weiter weg, als du je gewesen bist.«
»Magdalena könnte hinfliegen. Sie ist eine Hexe«, meint Marcus.
»Hör auf damit!« fährt ihn Johann an. »Ich möchte nicht, daß du so etwas sagst! Es war böse von Emilia, dir das einzuflüstern. Böse. Allmählich glaube ich wirklich, daß sie ein sündiges Mädchen ist und besser in Kopenhagen bliebe, damit wir hier alle unsere Ruhe haben. Du mußt sie vergessen, Marcus. Du mußt ihre schändlichen Lügen und auch sie vergessen. Sie kehrt nicht zu uns zurück. Und Magdalena ist keine Hexe. Sie ist meine Frau, und sie ist deine Mutter .«
»Nein, das ist sie nicht. Ich habe meine Mutter getötet.«
»Noch ein Beispiel von Emilias skandalösen Erfindungen! Mein Wort darauf, daß ich sie für ein gutes Mädchen hielt, doch nun sehe ich, wie verschlagen sie ist. Ich
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